Der Ausdruck von Trauer auf Howards Zügen vertiefte sich. »Du haßt mich noch immer, Gaspard«, sagte er leise. »Ich hatte gehofft, daß ...«
Gaspard unterbrach ihn mit einer wütenden Handbewegung. »Hassen?« schnappte er. »Wie kommst du darauf, Howard? Ich hasse dich nicht. Ich verachte dich. Und ich verfluche den Tag, an dem ich dich kennengelernt habe. Du bist es nicht wert, daß ich dich hasse.«
Lovecraft fuhr wie unter einem Schlag zusammen. »Es tut mir leid, Gaspard«, flüsterte er. »Ich hatte gehofft, daß die Zeit die Wunde ein wenig geheilt hat, aber ich sehe, daß du mir nicht vergeben hast.«
»Was willst du?« schnappte Gaspard. Sein Gesicht war jetzt zur Maske erstarrt, und seine Stimme klang kalt und schneidend wie die einer Maschine.
Howard atmete hörbar ein. »Ich brauche deine Hilfe, Gaspard.«
»Meine Hilfe?« Gaspard lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Wobei, mein Freund«, fragte er. »Ich habe nur eine Tochter. Wenn du auf ein Abenteuer aus bist, kann ich dir leider nicht dienen. Aber Paris ist groß.«
Howard krümmte sich wie unter einem Hieb. »Bitte, Gaspard«, sagte er, beinahe flehend. »Ich kann nicht mehr sagen, als daß es mir leid tut. Und es war niemals ein Abenteuer für mich, das mußt du mir glauben. Ich habe es ernst gemeint.«
Gaspard nickte. »Das habe ich auch gedacht, damals. Und Ophelie auch. Bis zu dem Morgen, an dem du verschwunden warst.«
Rowlf blickte verwirrt zwischen Howard und dem grauhaarigen Franzosen hin und her. Ophelie? dachte er. Er hatte diesen Namen noch niemals gehört.
»Ich hatte keine andere Wahl«, antwortete Howard leise. »Ich mußte Paris verlassen. Ich war in Gefahr. Und Ophelie und du wäret es auch gewesen, wenn ich geblieben wäre.«
»Wäre sie auch in Gefahr geraten, wenn du geschrieben hättest?« fragte Gaspard kalt. »Oder hattest du kein Geld mehr, um das Porto zu bezahlen?«
Howard seufzte. »Ich hatte keine Wahl«, sagte er noch einmal. »Du weißt nicht, was damals geschehen ist.«
»Doch«, sagte Gaspard ruhig. »Du scheinst mich für einen Narren zu halten, Howard. Deine Brüder kamen zu mir, keine Woche, nachdem du Ophelie im Stich gelassen hattest.«
Howard erschrak sichtlich. »Sie waren hier?« keuchte er. »Haben sie ... haben sie Ophelie etwas getan?«
Gaspard schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf und starrte Howard mit unverhohlenem Haß an. »Nein«, sagte er. »Sie haben ihr nichts getan. Aber das war kaum dein Verdienst. Was willst du?« fragte Gaspard noch einmal. »Ophelie ist nicht hier. Sie ist nicht einmal in Paris.« Er schnaubte. »Wenn du gekommen bist, um sie zu sehen, hast du den Weg umsonst gemacht. Sie will dich nie wiedersehen. Und ich auch nicht.«
»Ich bin nicht ihretwegen hier«, murmelte Howard. »Ich versuche seit einer Woche, Kontakt mit dem Orden aufzunehmen. Bisher ist es mir nicht gelungen.«
»Und jetzt glaubst du, ich könnte dir dabei helfen?« Gaspard lachte hart. »Wenn das alles ist - warte.« Er drehte sich um, verließ den Raum durch eine Seitentür und kam kaum eine Minute später zurück, ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen unter dem Arm.
»Was ist das?« fragte Howard verwirrt, als Gaspard ihm das Paket entgegenhielt.
»Woher soll ich das wissen«, schnappte Gaspard. »Es wurde für dich abgegeben - vor ein paar Tagen.«
Howard griff zögernd nach dem zigarrenkistengroßen Päckchen. »Abgegeben?« vergewisserte er sich. »Von wem?«
»Einem Fremden«, antwortete Gaspard. »Einem Mann, den ich vorher nie gesehen habe. Er hat mir fünfhundert Francs gegeben und das Päckchen.« Sein Gesicht verzog sich, als spräche er über eine Obszönität. Plötzlich griff er in die Innentasche seines abgewetzten Rockes, zog ein zusammengefaltetes Bündel mit Geldscheinen hervor und schleuderte es Howard vor die Füße. »Das sind die fünfhundert Francs«, sagte er angewidert. »Nimm sie und gib sie ihm wieder. Ich will nichts, was irgendwie mit dir zu tun hat, behalten. Er sagte, du würdest kommen und es holen.« Er wartete, bis Howard das Päckchen an sich genommen hatte, dann deutete er mit einer Kopfbewegung zur Tür.
»Aufmachen kannst du es draußen«, sagte er kalt. »Geh. Und komm nicht wieder.«
Eine endlose Sekunde lang starrte Howard den grauhaarigen Franzosen noch an, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Laden, so schnell, daß Rowlf Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten.
Der Aufprall hatte mir das Bewußtsein geraubt, aber es konnte kaum mehr als eine Minute vergangen sein, denn das erste, was ich wahrnahm, war das schrille Pfeifen der Lokomotive. Sekundenlang blieb ich reglos liegen und wartete darauf, daß der hämmernde Schmerz in meinem Hinterkopf nachließ, dann öffnete ich die Augen, erkannte einen Ausschnitt regengrauen Himmels über mir und fand mich langsam mit der Tatsache ab, noch am Leben und - wenigstens einigermaßen - unverletzt zu sein.
Mühsam richtete ich mich auf. Das quälende Hämmern in meinem Schädel ließ rasch nach, aber in meinem Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht irgendwie geprellt, gestaucht oder überdehnt war. Als ich versuchte, mich auf Händen und Knien zu erheben, unterdrückte ich nur mit Mühe einen Schmerzensschrei.
Dabei hatte ich noch Glück gehabt. Ich war nicht direkt auf den schotterbestreuten Bahndamm geprallt, sondern ein Stück weit die Böschung hinabgerollt, ehe ein Busch meinen rasenden Sturz gebremst (und mich vermutlich vor einigen üblen Knochenbrüchen oder Schlimmerem bewahrt) hatte. Wenn ich von den zahllosen Kratzern und Abschürfungen an meinen Händen und dem Gesicht absah, schien ich fast unverletzt zu sein.
So unverletzt, wie man eben ist, wenn man von einem mit voller Geschwindigkeit dahinpreschenden Eisenbahnzug springt ...
Irgendwo, sicher schon eine oder zwei Meilen von mir entfernt, pfiff die Lokomotive ein weiteres Mal, und der Laut erinnerte mich daran, daß ich einen triftigen Grund gehabt hatte, vom Dach des Waggons zu springen. Ich bog die Zweige des Busches auseinander, sah mich sichernd nach beiden Seiten um und trat dann vollends aus meiner Deckung hervor. Mühsam - und noch immer unsicher auf den Beinen - erklomm ich die Böschung, sah noch einmal nach beiden Seiten und bewegte mich auf die Brücke zu. Ich war nicht sehr weit von der Stelle entfernt, an der sie sich über die Geleise spannte - zwanzig, vielleicht dreißig Yard. Weniger als eine Sekunde, bei der Geschwindigkeit, die der Zug gehabt hatte. Der Gedanke ließ mich frösteln. Eine Sekunde ... Wenn ich auch nur um eine Winzigkeit zu spät reagiert hätte ...
Mein Blick tastete über das regennasse Gras der Böschung, fand einen niedergewalzten Busch und folgte der Spur aus aufgewühltem Erdreich und entwurzelten Sträuchern, die sich fast zwanzig Schritt weit die Böschung hinabzog. Einen Moment lang ergriff mich eine fast absurde Angst, daß sich die Böschung bewegen und Eisenzahn in alter Mordlust auftauchen könnte, aber ich vertrieb den Gedanken und nannte mich im stillen einen Narren. Alles, was ich finden würde, war eine Leiche.
Trotzdem zögerte ich noch, von den Bahngeleisen hinunterzutreten und Eisenzahns Körper zu suchen. Allein der Gedanke an den Anblick, den sein Leichnam bieten mußte, drehte mir schier den Magen herum. Aber dann verscheuchte ich auch diese Vorstellung, ging die Böschung hinab und folgte der Spur. Der Boden war fast handtief aufgerissen, wie von einer gewaltigen Egge umgepflügt, Gras und kleinere Büsche glattweg abgeschnitten und selbst ein junger Baum, der fast die Stärke meines Handgelenkes hatte, abgebrochen, als wäre ein Meteor vom Himmel gestürzt. Überall lagen Fetzen von Kleidern, zerborstenes Metall, und Dinge, die derart zusammengestaucht und zerstört waren, daß ich ihre ursprüngliche Bestimmung nicht einmal zu erraten wagte. Dann fand ich einen Schuh, der wie von einer Kreissäge halbiert worden war. Schließlich eine ganze Ansammlung kleiner, bis zur Unkenntlichkeit verbeulter Metallgegenstände. Schließlich endete die Spur am Ufer eines schmalen, aber allem Augenschein nach reißenden Flüßchens, das sich parallel zum Bahndamm dahinzog.