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Was ich nicht fand, war Eisenzahn.

Zwei-, dreimal hintereinander suchte ich den Bahndamm rechts und links der gewaltigen Schleifspur ab, zuerst flüchtig und in aller Hast, dann gründlicher. Aber das Ergebnis war jedes Mal das gleiche: die Schleifspur endete nach einer Strecke von mehr als dreißig Yard im Uferschlamm des Flusses, aber dort, wo der zerschmetterte Leichnam meines Gegners liegen sollte, war nichts.

Sekundenlang stand ich wie versteinert da und starrte die Stelle an, an der er hätte liegen müssen. Die logische Erklärung war, daß ihn die Wucht des Sturzes bis in den Fluß geschleudert hatte, wo ihn die Strömung davontrug; aber irgend etwas sagte mir, daß es nicht so war, und daß ich gut daran tat, mich trotz allem in acht zu nehmen.

Direkt vor meinen Füßen schimmerte etwas im Gras. Ich blieb stehen, bückte mich und streckte die Hand nach dem Gegenstand aus, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende. Eine eisige Faust schien sich um mein Herz zu legen und rasch und schmerzhaft zuzudrücken, und die Übelkeit in meinem Magen erwachte zu neuer Wut.

Es war ein Auge.

Wie eine kleine glitzernde Murmel lag es vor mir im Gras, schimmernd und lidlos und von einem stummen, im Tode erstarrten Vorwurf erfüllt. Ein menschliches Auge.

Oder zumindest die perfekteste Nachbildung eines menschlichen Auges, die ich jemals zuvor gesehen hatte. Das einzige, was die Illusion störte, waren die dünnen, glitzernden Drähte, die sich wie abgerissene metallene Adern aus seiner Rückseite hervorkräuselten.

Zwei, drei Sekunden blieb ich weiter reglos stehen, dann ließ ich mich auf die Knie herabsinken, nahm das gläserne Auge behutsam zwischen die Fingerspitzen und hob es hoch. Es war schwer, viel schwerer, als ich geglaubt hatte, und als ich versehentlich zwei der dünnen Drähtchen berührte, gab es einen winzigen blauen Funken. Ein leises Schnarren ertönte aus dem Inneren des Gebildes, und die Pupille bewegte sich von links nach rechts und wieder zurück.

Ich war nicht einmal sonderlich überrascht. Nach allem, was geschehen war, hatte es eigentlich nur diese eine Erklärung geben können.

Was nicht etwa hieß, daß sie mich beruhigt hätte. Ganz im Gegenteil.

»Es tut mir außerordentlich leid, Monsieur, aber ich fürchte, es steht nicht in meiner Macht, Ihnen zu helfen.« Das Gesicht des Mannes hinter der durchbrochenen Glasscheibe drückte aufrichtiges Bedauern aus - vor allem wohl in Anbetracht der zusammengefalteten Fünfzig-Franc-Note, die Howard unter dem Schalter hindurchgeschoben hatte; diskret genug, daß keiner der hinter ihm Stehenden etwas davon gemerkt hatte. »Wir sind ausverkauft. Schon seit Wochen. Heute ist Premiere, müssen Sie wissen.«

»Aber ich bitte Sie, mein Lieber!« Howard seufzte, nahm eine zweite Banknote aus der Westentasche und legte sie neben die erste. »Es wird sich doch eine Möglichkeit finden. Eine einzige Karte.«

»Ich nehme auchn Stehplatz!« fügte sein hünenhafter Begleiter hinzu. »Kann meinetwegn auch Rasierloge sein. Ich mach mir sowieso nix aus dem Gesinge.«

Der freundliche Ausdruck auf dem Gesicht des Kartenverkäufers wurde um mehrere Grade kälter, während Howard mit Mühe ein Grinsen unterdrückte. »Rowlf meint das nicht so«, sagte er hastig. »Aber es wäre wirklich sehr unkommod für uns, nicht zusammen in die Vorstellung gehen zu können.«

Der Kartenverkäufer maß die beiden ungleichen Männer erneut mit einem langen, bedauernden Blick, sah fast wehmütig auf die beiden Banknoten vor sich hinunter und schob sie dann mit spitzen Fingern zurück. »Es tut mir leid, Monsieur«, sagte er. »Glauben Sie mir - ich würde Ihnen helfen, wenn ich könnte. Aber wir sind restlos ausverkauft.«

Howard blickte ihn noch einen Moment fast flehend an, dann zuckte er mit den Achseln, strich sein Geld wieder ein und trat vom Schalter zurück. Rowlf folgte ihm, nicht, ohne dem Verkäufer hinter der Scheibe noch ein mißbilligendes Stirnrunzeln zuzuwerfen.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er ohne viel Umschweife, als Howard stehenblieb. »Du willst wirklich allein da rein?« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die beiden gewaltigen Türen, die ins Innere des Opernhauses führten. »Kann ‘ne Falle sein«, fügte er hinzu.

»Eine Falle?« Howard lächelte. »Kaum, Rowlf. Um jemanden in eine Falle zu locken, wüßte ich auf Anhieb ungefähr zehntausend bessere Örtlichkeiten, allein hier in Paris.«

Howard lächelte erneut, um seine Worte zu unterstreichen. Aber trotzdem ertappte er sich dabei, einen verstohlenen Blick über die Menschenmenge zu werfen, die sich in der Empfangshalle der Pariser Oper drängte. Er glaubte nicht wirklich, daß ihm hier irgendeine Gefahr drohte - die Templer waren keine Männer, die dramatische Auftritte suchten. Sie scheuten nicht davor zurück, wenn es unbedingt nötig war, aber wo es ging, erledigten sie ihre Aufgaben im stillen. Um ihn zu töten oder zu entführen, hätten sie weiß Gott bessere Orte finden können als ausgerechnet das Opernhaus.

Und trotzdem war ihm nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Das Paket, das ihm Gaspard übergeben hatte, hatte das Siegel des Pariser Templerkapitels getragen, und niemand, der auch nur die Hälfte seiner fünf Sinne beisammen hatte, hätte es gewagt, dieses Siegel zu fälschen. Aber alles, was das Päckchen enthalten hatte, war eine Karte für diese Premiere gewesen - und ein kleines, in Gold und Emaille gearbeitetes Opernglas.

Nun, dachte Howard, es gab wohl nur eine einzige Möglichkeit, dieses Rätsel zu lösen ...

»Es wird Zeit«, sagte er. »Ich gehe hinein. Das beste wird sein, wenn du hier draußen irgendwo auf mich wartest.« Er deutete auf ein kleines Straßencafe, dessen Lichter auf der entgegengesetzten Seite des Opernplatzes funkelten. »Warum setzt du dich nicht dorthin und genehmigst dir ein Bier, bis ich zurück bin? Oder auch zwei.«

Rowlf erwiderte sein Lächeln nicht. »Ich wäre lieber bei dir«, sagte er. »Ich trau’ diesem Templerpack kein Stück nich.«

»Vermutlich erwarten mich da drinnen nichts als zweieinhalb Stunden tödlicher Langeweile«, sagte Howard.

Diesmal widersprach Rowlf nicht mehr, und nach einer weiteren Sekunde drehte sich Howard herum und verschwand im Inneren des Opernhauses.

Vor der Garderobe herrschte ein solches Gedränge, daß Howard seinen Mantel anbehielt und, den strafenden Blick der Garderobiere ignorierend, gleich die breite Treppe zu den Galerien hinaufging. Ein livrierter Dienstbote kam ihm entgegen, verlangte höflich, aber bestimmt seine Eintrittskarte zu sehen, und führte ihn zu einer Tür am Ende des Ganges, die auf den ersten Rang hinausführte. Obwohl bis zum Beginn der eigentlichen Vorstellung noch eine gute halbe Stunde verstreichen würde, waren die gepolsterten Sitzreihen schon fast bis auf den letzten Platz besetzt. Der Lakai führte ihn zu seinem Platz, bedeutete ihm mit Gesten, sich zu setzen, und verschwand wieder.

Howard sah sich mit einer Mischung aus allmählich stärker werdender Unruhe und Enttäuschung um. Aus dem Zuschauerraum unter ihm drang das Raunen der Menschenmenge wie das dunkle Echo seines eigenen Herzschlages herauf, und das Licht war bereits gedämpft, so daß er die Gesichter der Männer und Frauen in seiner Umgebung nur undeutlich erkennen konnte. Aus dem Orchestergraben drang bereits das mißtönende Stimmen und Quietschen der Instrumente, und der dunkelrote Samtvorhang, der die Bühne noch vom Zuschauerraum trennte, bewegte sich träge, wie von unsichtbarem Wind gebauscht. Howards Verwirrung stieg. Was sollte er hier? Seine ehemaligen Brüder hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß sie seinen Tod wollten - aber wollten sie ihr Urteil etwa hier vollziehen, vor den Augen Hunderter, wenn nicht Tausender Zeugen? Howard konnte sich das kaum vorstellen.