Die Zeit verging träge. Dann und wann öffnete sich eine Tür, und ein weiterer Zuschauer trat auf den Rang hinaus, und jedesmal fuhr Howard herum und musterte den Neuankömmling mit einer Mischung aus Furcht und banger Erwartung.
Schließlich änderte sich etwas im Raunen der Menschenmenge unter ihm, und als Howard aufsah, begann das Licht allmählich dunkler zu werden; gleichzeitig ertönten aus dem Orchestergraben die ersten Takte der Ouvertüre. Sekunden später öffnete sich der Vorhang und gab den Blick auf eine phantastische Bühnendekoration frei. Howard wurde sich beinahe schuldbewußt darüber klar, daß er nicht einmal wußte, welches Stück heute gegeben wurde.
Aber schließlich war er nicht hier, um eine Opernpremiere zu genießen. Während sich rings um ihn herum die anderen Gäste in ihren Sitzen zurücksinken ließen, beugte sich Howard weiter vor, blickte einen Moment lang konzentriert auf die Bühne herab und hob schließlich das Opernglas an die Augen.
Obwohl es klein war, erwies es sich als erstaunlich gut. Howard betrachtete einen weiteren Moment lang die Bühne, richtete sich dann ein wenig auf und ließ seinen Blick über die in vier übereinanderliegenden Reihen angeordneten Balkone schweifen, die den Zuschauerraum an beiden Seiten säumten. Die Gesichter in den kleinen Separees schienen plötzlich zum Greifen nahe; Gesichter von Männern und Frauen der guten und besten Gesellschaft, alte und junge, hübsche und häßliche, und ...
Der Anblick traf ihn wie ein Fausthieb.
In der ersten Sekunde glaubte er es nicht. Etwas in ihm sträubte sich mit aller Gewalt dagegen, das Bild als das anzuerkennen, was es war, aber er wußte auch im gleichen Moment, daß es keine Illusion sein konnte.
Er kannte dieses Gesicht zu gut, um sich zu täuschen.
Die dunklen, scheinbar grundlosen Augen, die dem schmalen Gesicht einen leicht exotischen Ausdruck verliehen, der sinnliche Mund, der immer zu einem sanften, spöttischen Lächeln bereit zu sein schien, der freche schwarze Haarschopf, der sich jedem Versuch, ihn zu einer Frisur zu ordnen, widersetzte ...
Nein - er kannte dieses Gesicht. Zu gut, um sich zu täuschen.
Seine Hände begannen zu zittern, und mit einem Male spannten sich seine Finger so fest um das Glas, daß das kleine Instrument hörbar knirschte.
»Ophelie!« flüsterte er. »Mein Gott!«
Der Mann zu seiner Rechten sah strafend auf, aber Howard merkte es nicht einmal. Sein Blick saugte sich an dem blassen Mädchengesicht fest, das in der Optik seines Glases erschienen war wie eine Vision aus einer längst vergangenen Zeit. Dann bewegte sich ein Schatten, ein Stück hinter und neben dem Antlitz Ophelies, und ein zweites Gesicht erschien im Sichtfeld des Glases. Das Gesicht eines schlanken, dunkelhaarigen Mannes mittleren Alters, beherrscht von einem Paar nachtschwarzer stechender Augen und einem sorgfältig ausrasierten Kinnbart.
Howard schrie auf. »Nein!« keuchte er. »Nicht ... nicht das! So grausam können sie nicht sein!«
Aber dann bewegte sich der Mann, und als Howard seinem Blick begegnete, wußte er, daß sie es konnten.
Und plötzlich wußte er auch, warum er hier war.
Und wie seine Strafe aussehen würde.
Seine Hand schloß sich so fest um das Glas, daß die beiden Objektive klirrend zerbarsten.
Es mußte auf Mitternacht zugehen, als ich Paris erreichte. Die Straßen der Millionenstadt waren verlassen, und das Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe. Über dem Zentrum der Stadt, noch Meilen entfernt, schien eine pulsierende Glocke aus Licht zu schweben, und das Geräusch des klapperigen Fuhrwerkes, auf dem ich die letzten zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, wurde von den Häusern rechts und links der Straße unheimlich verzerrt zurückgeworfen. Während der letzten zehn Minuten hatte sich der zweispännige Karren am Ufer der Seine entlanggequält, aber alles, was ich von diesem berühmten Fluß wahrgenommen hatte, war ein schwarzer Graben, der die Stadt in zwei Hälften zu teilen schien, und dann und wann ein leiser Geruch nach fauligem Wasser. Wie immer sich das Viertel von Paris nannte, in dem wir waren - es schien nicht unbedingt zu den vornehmen Gegenden der Stadt zu gehören.
Das Fuhrwerk hielt mit einem letzten Schaukeln, und der Kutscher drehte sich zu mir herum. »Wir sind da, Monsieur«, sagte er. »Rue de la Provence.« Er nickte bekräftigend, deutete mit dem Stiel seiner Peitsche über den Fluß und fügte hinzu: »Ich hab’ extra einen Umweg gemacht, damit Sie nicht so weit laufen müssen. Ist keine so sichere Gegend hier. Vor allem nicht um diese Zeit. Sie brauchen nur noch über die Brücke zu gehen.«
Ich verstand den Wink, stieg umständlich von der Ladefläche des Gemüsekarrens herunter und zog meine Geldbörse aus der Rocktasche.
»Aber das ist doch nicht nötig, Monsieur - ich bitte Sie!« Der Mann begann abwehrend zu gestikulieren, schüttelte ein paarmal hintereinander den Kopf - und griff blitzschnell nach dem Fünfzig-Franc-Schein, den ich ihm hinhielt. Ich unterdrückte ein Grinsen, dankte ihm noch einmal für seine Hilfe und wandte mich um, um auf die Brücke zuzuhumpeln. Hinter mir verklang das Geräusch der Karrenräder auf dem Pflaster.
Von der Oberfläche der Seine schlug mir ein eisiger Hauch entgegen, als ich auf die Brücke hinaustrat, und die Dunkelheit schien intensiver zu werden, als sauge etwas über dem Fluß auch noch das bißchen Licht auf, das Mond und Sterne spendeten. Ich schauderte und sah mich hastig nach beiden Seiten um.
Aber die Straße war leer. Für einen ganz kurzen Moment glaubte ich einen Schatten zu erkennen, sehr weit entfernt und fast am Ende der Straße. Irgend etwas klirrte, ein Geräusch wie Stahl, der über harten Stein scharrt. Aber als ich genauer hinsah, war er verschwunden, und das Klirren von Metall wurde zum ärgerlichen Fauchen eines Katers, den ich in seinem nächtlichen Streifzug gestört hatte.
Ich schalt mich in Gedanken einen Narren, schlug den Jackenkragen hoch, denn die Luft war hier, direkt über dem Fluß, feucht und empfindlich kalt, und ging schneller weiter. Als ich das Hotel betrat, hatte ich den Schatten bereits wieder vergessen.
Das Haus war dunkel. Der Flur roch durchdringend nach kaltem Zigarrenrauch und Kohl, und irgendwo in den oberen Stockwerken plärrte ein Kind. Unschlüssig blieb ich stehen, sah mich nach so etwas wie einem Empfangsraum um und klopfte schließlich an eine Tür, über der ein lieblos gekritzeltes Schild Concierge verkündete. Im stillen fragte ich mich, welcher Teufel Howard geritten haben mochte, in einem derartigen Loch Unterschlupf zu suchen. Selbst die heruntergekommene Pension, in der ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte, war ein Prachtquartier gewesen, im Vergleich zu dieser Absteige.
Ich mußte viermal klopfen - und jedesmal etwas lauter -, ehe schließlich hinter der Tür schlurfende Schritte laut wurden. Eine Kette klirrte, dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet, und ein verschlafenes Auge blinzelte zu mir heraus. »Wissen Sie, wie spät es ist?« murmelte eine Stimme. Das Auge blickte ein wenig feindseliger - was ich ihm, bei dem Anblick, den ich bieten mußte, nicht einmal verdenken konnte. »Mitternacht«, antwortete ich automatisch, lächelte so freundlich, wie es mir im Moment noch möglich war, und fügte hinzu: »Verzeihen Sie die Störung, Monsieur ...«
»Madame«, unterbrach mich die Stimme. Die Tür wurde mit einem Ruck ganz geöffnet, und eine Zwei-Zentner-Matrone schob mir ihren gewaltigen Busen entgegen. Das Gesicht, das verschlafen unter einer Nachtmütze hervorblinzelte, sah aus wie ein zerknautschter Scheuerlappen. Aber irgendwie paßte es zu diesem Hotel. »Madame Dupre, um genau zu sein«, fuhr sie fort. »Und Sie müssen Monsieur Craven sein, wenn ich nicht irre.«
»Das ... stimmt«, sagte ich verblüfft. »Woher wissen Sie -«
»Ich bin nicht dumm, junger Mann«, sagte Madame Scheuerlappen herablassend. »Ihre beiden Freunde haben gesagt, daß Sie kommen würden.« Der verschlafene Ausdruck wich jetzt rasch von ihrem Gesicht, und als sie weitersprach, wurden ihre Worte von einem Augenaufschlag begleitet, der mich sicher auf dumme Gedanken gebracht hätte, wäre sie zwanzig Jahre jünger und anderthalb Zentner leichter gewesen. »Ein gutaussehender junger Mann mit einer weißen Strähne im Haar«, fuhr sie fort. »Monsieur Lovecraft hat ein Zimmer für Sie reservieren lassen.«