»Wo ist sie?« keuchte Howard. »Rede, oder -«
»Oder?« unterbrach ihn de Laurec kalt. »Oder was, Howard? Willst du mich töten? Was glaubst du, würde ihr geschehen, wenn du Hand an mich legen würdest?«
»Du Bestie!« keuchte Howard. »Ihr ... ihr verdammten Bestien. Warum zieht ihr sie mit hinein. Ich bin hier, weil ich mich euch stellen wollte. Ihr könnt mich haben, aber laßt Ophelie aus dem Spiel. Sie hat nichts mit euch zu schaffen.«
»Aber mit dir, Bruder«, antwortete de Laurec kalt. »Du willst dich stellen? Gut. Ich habe Tapferkeit immer respektiert, auch bei meinen Feinden. Aber du täuscht dich, wenn du glaubst, du brauchtest nur hierher zu kommen, und alles wäre in Ordnung. Du willst Ophelie?«
»Laßt sie in Ruhe«, sagte Howard. Seine Stimme bebte und drohte zu brechen. Seine Hände zuckten, als kämpfe er wirklich mit aller Macht gegen den Wunsch, sich auf de Laurec zu stürzen und ihn kurzerhand zu erwürgen. Aber im Grunde war es nur eine Geste der Hilflosigkeit. »Ich flehe dich an, Bruder de Laurec - Ophelie hat euch nichts getan. Sie ... sie ist unschuldig.«
»Niemand ist unschuldig, Bruder Howard«, erwiderte de Laurec kalt. »Aber ich werde dir beweisen, wie großmütig die Bruderschaft ist; auch denen gegenüber, die sie verraten haben. Du hast zwölf Stunden, zu mir zu kommen. Allein und ohne Waffen.«
»Aber ich bin da!« begehrte Howard auf. »Du hast mich! Was willst du noch, du Bestie?«
De Laurec schüttelte tadelnd den Kopf. Howard fiel eine winzige, schon halb verkrustete Wunde an seiner Schläfe auf, aber der Gedanke entglitt ihm, ehe er ihn vollends greifen konnte. »So nicht, Bruder«, sagte der Franko-Araber. »Du denkst, du brauchtest nach zehn Jahren nur aufzutauchen und zu sagen: ich bin da, und alles wäre in Ordnung?« Er lächelte. »Du weißt, daß es nicht so leicht ist.«
Howard ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Gut«, sagte er. »Ihr habt gewonnen, de Laurec. Was ... soll ich tun?«
»Du kennst mein Haus?«
»Das kleine Chalet außerhalb der Stadt?«
De Laurec nickte. »Du wirst dorthin kommen. Allein und waffenlos - und ohne den hirnlosen Schläger, der dich begleitet.«
»Und was geschieht mit ... mit Ophelie?« fragte Howard stockend.
De Laurec zuckte mit den Achseln. »Das hängt ganz von dir ab, Bruder Howard. Glaube nicht, daß ich vergessen hätte, wie gefährlich du bist. Ich traue dir sogar jetzt noch zu, mich zu besiegen. Möglicherweise könntest du der gerechten Strafe auch diesmal entkommen.«
»Aber dann würdet ihr Ophelie töten«, murmelte Howard.
De Laurec nickte.
Eine endlose Sekunde lang starrten wir uns nur an, ich mit einer Mischung aus schierem Unglauben und ganz langsam stärker werdendem Entsetzen, Eisenzahn mit unbewegtem Gesicht. Sein einzelnes, verbliebenes Auge schien vor Haß zu brennen, und seine Hände vollführten unentwegt kleine, zupackende Bewegungen, die von einem ganz leisen Summen begleitet wurden.
Schließlich war es Madame Dupre, die mit einem Schrei die lähmende Stille brach. Eisenzahn und ich erwachten gleichzeitig aus unserer Erstarrung. Aber ich war um eine Zehntelsekunde schneller. Eisenzahns Kopf ruckte mit einer harten Bewegung herum. Sein Kunstauge glühte stärker, und seine rechte Hand hob sich und grabschte in Madame Dupres Richtung; für einen Moment schien er unschlüssig, welchem Gegner er sich zuerst zuwenden sollte.
»Zurück!« brüllte ich. »Um Gottes willen - laufen Sie um Ihr Leben!« Gleichzeitig sprang ich vor, versetzte ihr einen Stoß vor die Brust, der sie rücklings in ihr Zimmer und ziemlich unsanft auf das gepolsterte Hinterteil fallen ließ, duckte mich unter Eisenzahns Klaue hindurch und führte die Drehung zu Ende.
Mein Fuß kam hoch, beschrieb einen perfekten Halbkreis und traf Eisenzahns Kopf schräg von unten. Es war ein Tritt wie aus dem Lehrbuch; ganz genau so, wie ihn mir mein chinesischer Freund beigebracht hatte.
Aber hier zeigte er keine Wirkung. Statt dessen griff Eisenzahn mit einer beinahe gemächlichen Bewegung nach meinem Fuß und brachte mich mit einem kraftvollen Ruck aus dem Gleichgewicht. Ich schrie auf, kämpfte mit wild rudernden Armen um meine Balance - und fiel nach hinten, als Eisenzahn unversehens meinen Fuß losließ. Sekundenlang sah ich nichts als flimmernde rote Punkte und graue Schemen.
Als sich mein Blick klärte, kam Eisenzahn mit einem triumphierenden Klappern auf mich zu. Sein Stahlgebiß blitzte, und seine Hände waren zu Klauen verkrümmt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie töten werde, Craven«, sagte er ruhig und mit schnarrender Stimme. »Es ist meine Aufgabe.« Dann sprang er vor.
Mit einer verzweifelten Drehung warf ich mich beiseite, packte sein Bein mit beiden Händen und zerrte mit aller Kraft daran. Gleichzeitig stieß ich mit den Füßen nach seinem anderen Bein.
Erneut hatte ich das Gefühl, gegen einen Stahlträger getreten zu haben. Die Erschütterung pflanzte sich wie eine Welle aus vibrierendem Schmerz durch meinen Körper fort und trieb einen keuchenden Laut über meine Lippen. Aber ich hatte Erfolg - Eisenzahn zitterte und stand eine halbe Sekunde lang reglos da. Aus seinem Inneren drang ein schrilles, immer heller werdendes Heulen, dann hörte ich ein trockenes Knacken, als zerbreche ein Ast. Er kippte wie ein gefällter Baum nach hinten und zerschlug dabei die Bodenfliesen. Aber nur, um fast im gleichen Moment herumzurollen und sich mit einer schwerfällig scheinenden Bewegung wieder in die Höhe zu stemmen.
Ich war eine halbe Sekunde vor ihm auf den Beinen, machte einen Schritt in Richtung Tür und warf mich herum, als seine Hand vorschnellte. Seine Krallen gruben sich in die zertrümmerten Reste der Haustür und zermalmten sie vollends.
Ich prallte zurück, sah mich verzweifelt nach einem Fluchtweg um und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf die Treppe zu. Hinter mir erhob sich Eisenzahn wie ein zum Leben erwachter Alptraum. Die Treppe begann unter meinen Füßen zu beben, als er zur Verfolgung ansetzte.
Immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, stürmte ich die Treppe hinauf, erreichte den ersten Absatz und lief weiter, ohne mich auch nur nach meinem Verfolger umzusehen. Die Treppe endete auf einem düsteren, scheinbar endlos langen Korridor, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Ich stürmte weiter, erreichte sein Ende und polterte die nächste Treppe hinauf.
Als ich das dritte und letzte Stockwerk erreicht hatte, betrug mein Vorsprung gute zwanzig Yard. Ich lief weiter, bis ich am Ende des Korridors angelangt war, sah unschlüssig von einer Tür zur anderen und wandte mich schließlich dem Fenster zu. Eisenzahn kam schnell näher. Das ganze Haus schien unter seinen stampfenden Schritten zu erzittern. Er hatte eine Menge von seiner Schnelligkeit eingebüßt, wie mir ein rascher Blick über die Schulter zeigte. Er lief torkelnd wie ein Betrunkener und zog das rechte Bein sichtbar nach. Trotzdem war er noch immer fast so schnell wie ich.
Der Anblick zerstreute auch den letzten Rest von Zweifel. Ich schlug das Fenster ein, beugte mich hinaus und sah einen drei Stockwerke tiefen, nachtschwarzen Abgrund unter mir. Aber direkt neben dem Fenster führte eine verbeulte Regenrinne entlang, und die Mauer schien mir alt und rissig genug, meinen Fingern und Zehen Halt zu bieten. Mit einer entschlossenen Bewegung schwang ich mich nach draußen, klammerte mich mit einer Hand und einem Bein an der Regenrinne fest, suchte mit dem anderen Fuß sicheren Halt auf dem Fensterbrett und griff mit der Rechten nach oben. Unter meinen Fingern war rissiger feuchter Stein und Mörtel, der unter meinem Griff zerbröckelte. Zu allem Überfluß hatte es auch noch zu regnen begonnen, nicht sehr heftig, aber doch genug, die Wand mit einem glitschigen Schmierfilm zu überziehen.
Langsam - und fast krampfhaft darum bemüht, nicht in die Tiefe zu blicken - begann ich an der Regenrinne nach oben zu klettern. Die altersschwache Konstruktion ächzte und knarrte bedrohlich unter meinem Gewicht, aber die Angst gab mir zusätzliche Kraft, und ich brauchte kaum eine Minute, den überhängenden Rand des flachen Ziegeldaches zu erreichen. Hastig sah ich in die Tiefe. Das zerborstene Fenster schien unendlich weit unter mir zu liegen, und die Straße darunter war hinter den Schatten der Nacht verschwunden. Von Eisenzahn war noch keine Spur zu sehen. Aber es konnte nur noch Sekunden dauern, ehe er das Fenster erreicht hatte.