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Ich sah nach oben. Die Dachkante ragte einen guten halben Yard über die Mauer hinaus, so daß mir nichts anderes übrigblieb, als vorsichtig zuerst die linke, dann auch die rechte Hand von meinem Halt zu lösen, nach der durchhängenden Regenrinne zu greifen und einfach darauf zu hoffen, daß sie mein Gewicht tragen würde.

Für einen kurzen, schrecklichen Moment bog sich die gesamte Konstruktion unter meinem Gewicht durch. Ich angelte mit den Füßen nach dem Regenrohr, glitt aber an dem feuchten Eisen ab und verlor vollends den Halt. Eine halbe Sekunde lang kippte der Himmel über mir zur Seite, dann lief ein spürbarer Ruck durch das rostzerfressene Eisen, irgendwo ertönte ein Laut, als zerbreche Metall - und ich spürte, wie meine improvisierte Leiter vollends aus der Wand riß.

Mit letzter Kraft warf ich mich vor, bekam die Dachkante zu fassen und klammerte mich mit aller Macht daran fest. Die regenfeuchten Ziegel boten meinen Händen kaum Halt, aber ich krallte mich fest, spürte, wie meine Fingernägel der Reihe nach abbrachen und griff blindlings mit der anderen Hand nach. Im gleichen Moment stürzte die Dachrinne polternd unter mir in die Tiefe.

Drei, vier Sekunden lang hing ich mit hilflos pendelnden Beinen an der Dachkante. Meine Füße scharrten über die Wand, aber ich fand keinen Halt, und ich fühlte, wie meine Finger Millimeter für Millimeter über den feuchten Schiefer glitten; langsam, aber unbarmherzig. Verzweifelt zog ich die Beine an, machte einen gewagten Klimmzug, unter dem das ganze Dach zu erbeben schien - und zog mich ein Stück weiter nach oben. Aber nur, um sofort wieder auf dem glitschigen Dach zurückzurutschen.

Verzweifelt begann ich mit den Beinen zu strampeln, streifte die Schuhe ab und schrammte mit den Zehen über die Hauswand. Diesmal fand ich Halt. Meine nackten Zehen stemmten sich in einen Mauerriß, und für einen ganz kurzen Moment konnte ich mein Körpergewicht verlagern und nach festem Halt suchen. Mit einem letzten, erleichterten Seufzer zog ich mich auf das Dach hinauf.

Besser gesagt - ich wollte es.

Ein gewaltiger Schatten erschien vor dem regenverhangenen Nachthimmel, dann senkte sich ein nackter Fuß, der nur zur Hälfte aus Fleisch und Haut und zur anderen aus schimmerndem Eisen bestand, auf meine linke Hand und trat so wuchtig zu, daß ich meinen Halt losließ und erneut nach hinten zu kippen begann. Im letzten Moment konnte ich meinen Sturz bremsen - aber nur, um mit hilflos pendelnden Beinen weiter über dem Abgrund zu hängen. Und ich spürte, wie die Kraft in meiner rechten Hand von Sekunde zu Sekunde nachließ.

»Sie machen es mir wirklich nicht leicht, meine Aufgabe zu erfüllen, Mister Craven«, sagte Eisenzahn kopfschüttelnd. Er beugte sich vor, und obwohl ich genau wußte, daß er nichts als ein Automat und zu solcherlei Regungen gar nicht fähig war, glaubte ich für einen Moment, ein schadenfrohes Glitzern in seinem verbliebenen Auge zu sehen. »Aber ich verstehe nicht ganz, warum Sie sich die Mühe gemacht haben, an der Wand hinaufzuklettern«, fuhr er im Plauderton fort. »Sie hätten die Treppe nehmen können, wissen Sie? Genau wie ich.«

Und damit trat er mir auf die andere Hand. Das letzte, was ich sah, war sein hämisches Grinsen. Dann kippten der Himmel und das Dach in einem grotesken Salto nach hinten weg, und ich fiel wie ein Stein in die Tiefe.

Obwohl in dem Zimmer an die hundert Kerzen brennen mußten, war es nicht richtig hell. Ein sonderbarer, grauflackernder Schein hing in der Luft wie graues Licht, und mit dem Knistern des Kaminfeuers drang noch ein anderer, unwirklicher Laut in das Schweigen der Nacht. Das Haus war still geworden, nachdem auch die letzten Dienstboten gegangen waren, viel stiller als sonst. Und da war noch etwas. Ein nicht mit Worten zu beschreibender, aber überdeutlich fühlbarer Unterschied, etwas, als ...

Sarim de Laurec hob stöhnend die Hand an die Stirn. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, das Zimmer auf bizarre Art und Weise sich biegen und winden zu sehen. Etwas war mit den Farben geschehen, das zu beschreiben ihm selbst in Gedanken die richtigen Worte fehlten. Die vertraute Umgebung, in der er seit mehr als zwei Jahrzehnten lebte, war ihm mit einem Male fremd und unheimlich erschienen, so fremd, als wäre er unversehens in eine vollkommen andere, ihm unverständliche Welt verschlagen worden.

Dann war das Gefühl gegangen.

Geblieben war die Furcht.

Sarim de Laurec hatte Angst. Und es war eine Angst ganz anderer Art, als er sie jemals zuvor kennengelernt hatte. Er hatte Angst, ohne zu wissen wovor, und es war, als wäre in ihm noch etwas, ein fremder, feindseliger Geist, der an seiner Seele nagte und fraß wie eine unsichtbare Ratte.

Der Franko-Araber versuchte, den Gedanken zu vertreiben, stand auf und ging mit raschen Schritten zu dem kleinen Teewagen neben dem Kamin hinüber, um sich - ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten - einen Drink zu mixen. Seine Hände zitterten so stark, daß das Eis im Glas klirrte, und der ungewohnte Alkohol brannte wie Feuer in seiner Moslem-Kehle. Aber er beruhigte ihn auch. Nach einer Weile spürte er, wie die Angst wich und sein normales, logisches Denken wieder die Oberhand gewann.

Sarims Augen wurden schmal, während er sich, das Glas noch immer in der Hand und den scharfen Geschmack des Cognacs auf der Zunge, einmal um seine Achse drehte und das Zimmer in allen Einzelheiten musterte. Das Gefühl der Furcht war vergangen, aber de Laurec wäre nicht der Mann gewesen, der er war, wäre er einfach über den Zwischenfall hinweggegangen.

Was war das gewesen? dachte er. Wirklich nur seine Nervosität - oder vielleicht mehr? Ein Angriff mit Mitteln der Magie oder Teufelskraft? Sekundenlang wog de Laurec alle ihm möglich erscheinenden Erklärungen gegeneinander ab. Es mochte sein, daß das, was er gefühlt hatte, ein geistiger Angriff gewesen war, der Versuch eines anderen, Gewalt über sein Denken und seinen Willen zu erlangen. Bruder Howard?

Das war die eine Möglichkeit, überlegte de Laurec.

Die andere - die ihm weit wahrscheinlicher erschien - war, daß er noch immer unter den Auswirkungen des fehlgeschlagenen Versuches litt, das Kristallhirn der GROSSEN ALTEN unter die Kontrolle des Templerkapitels von Paris zu bringen. Er hatte die Berührung dieses unendlich fremden, bösen Geistes nur für Sekunden gespürt, aber er hatte gefühlt, welch ungeheure Macht dieses uralte Etwas besaß.

Als Sarim de Laurec an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, verspürte er einen scharfen, sehr tief gehenden Stich in der Schläfe. Er fuhr zusammen, krümmte sich wie unter einem Schlag und versuchte den Schmerz zu vertreiben. Als ausgebildeter Magier der Templerloge hatte er gelernt, seinen Körper perfekt zu beherrschen und Schmerzen nach Belieben abschalten oder zumindest dämpfen zu können.

Diesmal versagte sein Können. Im Gegenteil - der Schmerz steigerte sich zu plötzlicher Raserei, füllte seinen Schädel aus und schickte dünne brennende Adern aus purer Agonie in seinen Körper. De Laurec keuchte. Seine Hand krampfte sich so fest um das Glas, daß es zerbrach und die Scherben tiefe Wunden in seine Haut schnitten. Er taumelte, fiel rückwärts gegen den Barwagen und stürzte in einem Hagel von zersplitternden Gläsern und Flaschen zu Boden. Blut lief über seine Hände, eine Scherbe zerschnitt seine Wange, und der Inhalt der zerborstenen Flaschen bildete eine große, scharf riechende Lache auf den Mosaikfliesen des Bodens.

De Laurec spürte nichts von alledem.