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Es war so wie beim ersten Mal, nur tausendfach schlimmer.

Das Zimmer zuckte und bebte vor seinen Augen, als wären die Wände und die Einrichtung plötzlich zu gräßlichem Leben erwacht. Fremde, unangenehme Farben überlagerten die zarten Pastelltöne der Tapeten und Gardinen, und aus den Schatten krochen Dinge.

De Laurec schrie. Verzweifelt bäumte er sich auf, schlug wie von Sinnen um sich und preßte die Hände gegen die Augen, aber es nutzte nichts. Er konnte weiter sehen, als verfüge er plötzlich über zusätzliche Sinne, und er sah weit mehr, als er es mit seinen normalen menschlichen Augen je gekonnt hätte.

Das Zimmer veränderte sich weiter. Die Wände bogen und verzerrten sich auf groteske Weise. Graue, blasphemische Scheußlichkeiten starrten ihn aus den Rissen und Wunden der Wirklichkeit an, blasenschlagende Tentakeln peitschten, und da, wo der Boden sein sollte, kroch ein unheimlicher schwarzer Sumpf.

Dann, so schnell, wie die Visionen gekommen waren, verschwanden sie wieder. Mit ihnen ging der grausame Schmerz in de Laurecs Schädel, und plötzlich war die Welt wieder so, wie Sarim de Laurec sie kannte.

Beinahe jedenfalls.

Es dauerte lange, bis dem Puppet-Master des Templerordens die Veränderung auffiel.

Die Wirklichkeit hatte Flecken bekommen.

Es war ein sonderbarer, sinnverdrehender Effekt, der ihn abermals aufstöhnen ließ, kaum daß er sich mühsam in eine halbwegs sitzende Position hochgestemmt hatte. Dutzende von kleinen, verwaschenen grauen Flecken übersäten das Bild, das ihm seine Augen zeigten. Sie waren nicht statisch, sondern bewegten sich ununterbrochen, flitzten wie kleine graue Nebeltierchen hin und her und huschten jedesmal davon, wenn er versuchte, genauer hinzusehen. Es war, als wäre sein Blick plötzlich getrübt; die grauen Flecken schienen auf seinen Netzhäuten zu sein, so daß es ihm unmöglich war, sie direkt anzusehen. Einen Moment lang versuchte er, sich an diese Erklärung zu klammern.

Aber er wußte auch, daß es nicht so war. Er hatte graue Flecke wie diese schon einmal gesehen, vor nicht einmal zwei Tagen.

Und dann hörte er die Stimme.

Sie war lautlos und erklang direkt in seinem Gehirn, und sie sprach Worte, die Sarim de Laurec noch nie zuvor in seinem Leben gehört hatte, Worte aus einer Sprache, die vor zweihundert Millionen Jahren untergegangen war; zusammen mit dem Volk, das sie benutzte.

Und trotzdem verstand er sie.

Länger als eine Stunde blieb er reglos und mit geschlossenen Augen hocken und lauschte auf die unsichtbare Stimme in seinem Schädel.

Als er endlich aus seiner Erstarrung erwachte, war alles Leben aus seinen Augen gewichen. Sie waren grau und matt, und alles, was darin noch loderte, war das Feuer des Wahnsinns. Sein Gesicht war schlaff, als lege das, was jetzt die Herrschaft über seinen Körper hatte, keinen Wert mehr auf die Kontrolle seiner Muskeln.

Aber er war nicht nur äußerlich verändert. Die größere, schlimmere Veränderung hatte sich lautlos und unsichtbar abgespielt, hinter seiner Stirn und auf einer Ebene seines Denkens.

Sarim de Laurec, der Puppet-Master des Templerordens, hatte einen neuen Herrn gefunden.

Der erste halbwegs klare Gedanke war Erstaunen. Verwunderung darüber, daß ich noch lebte. Dann Schmerz. Ein Schmerz, der nicht genau zu lokalisieren war, sondern überall in meinem Körper wühlte, als zupfe jemand genüßlich an jedem einzelnen Nerv, den ich hatte. Dann begannen sich die düsteren Schleier zu lichten, die mein Bewußtsein umgaben; ich hörte Geräusche, spürte die Kälte des Regens auf der Haut und das harte Pflaster der Straße unter dem Kopf, und schließlich gerann der Schmerz zu einem gräßlichen Brennen und Stechen in meinen Fußknöcheln und einem kaum weniger peinigenden Pochen in meinem Rücken. Jemand schlug mir ins Gesicht, nicht sehr fest, aber beständig, und eine Stimme rief immer wieder meinen Namen. Ich öffnete die Augen.

Ich lag auf dem Rücken inmitten eines gewaltigen Trümmerhaufens aus Holz, Metall und einem widerlich weichen, grünlich-gelben Etwas, das durchdringend nach faulem Obst stank. Eine gewaltige, behaarte Hand hatte mich am Jackenaufschlag gepackt und halbwegs in die Höhe gezerrt, und eine zweite, nicht weniger große Hand klatschte immer wieder abwechselnd auf meine rechte und meine linke Wange.

Darüber, noch immer halb verzerrt hinter treibenden grauen Schleiern, starrte mich Rowlfs Bulldoggengesicht an.

Er schlug noch drei-, viermal zu, dann schien er endgültig davon überzeugt zu sein, daß ich wieder bei Bewußtsein war, denn er hörte auf, auf mich einzuprügeln, und setzte mich statt dessen wie ein Spielzeug aufrecht hin. Sofort sackte ich wieder zusammen, aber Rowlf zerrte mich abermals hoch, grunzte wütend und lehnte mich mit dem Rücken gegen das, was von dem zerborstenen Gemüsekarren übriggeblieben war. »Verstehst du mich?« fragte er. Seine Stimme klang sehr ernst.

Ich nickte, und auf Rowlfs breitem Gesicht machte sich ein erster Schimmer vorsichtiger Erleichterung breit. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er noch einmal.

»Noch«, murmelte ich schwach. »Aber du kannst aufhören, mich weiter zusammenzuschlagen. Ich habe für heute genug Prügel bezogen.«

Rowlf grinste, ließ meine Schulter los und griff blitzschnell wieder zu, als ich erneut zur Seite zu kippen drohte. In meinem Kopf machte sich ein ekelhaftes Gefühl breit: kein Schmerz mehr, aber eine Mischung aus Schwindel und Schwäche, die beinahe schlimmer war.

»Wasn passiert, Kleener?« nuschelte Rowlf, plötzlich wieder in seinen fürchterlichen Slang zurückfallend. »Wo kommste her, un warum nimmste niche Treppe, statt ausm Fenster zu springn?«

»Die gleiche blöde Frage hat mir gerade schon jemand gestellt«, stöhnte ich. »Bitte, Rowlf - mir ist nicht nach Scherzen zumute.«

Rowlf wurde übergangslos ernst. »Was war los?« fragte er.

Ich dachte einen Moment ernsthaft über diese Frage nach, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen. Dann machte irgend etwas hinter meiner Stirn hörbar klick - und ich fuhr mit einem leisen Schreckensruf hoch. Sofort wurde der Schwindel hinter meiner Stirn stärker. Ich griff haltsuchend nach Rowlfs Schultern, verfehlte sie, und fiel mit dem Gesicht voran in eine Ladung halbzerquetschten Gemüses. Rowlf half mir mit einem verzeihenden Lächeln auf.

»Wie lange ... wie lange liege ich hier schon?« fragte ich, kaum daß ich wieder zu Atem gekommen war.

»n’ paar Minuten«, antwortete Rowlf. »Ich hab’ grad noch gesehen, wie de vom Dach geflogn bist.« Er schüttelte den Kopf. »Dachte schon, ich müßte dich vonner Straße abkratzen, aber du has nochma Glückehabt.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf den zertrümmerten Gemüsekarren, der meinen Sturz gebremst hatte und dabei selbst zu Bruch gegangen war. »Ohne dat Ding da wärste jetzt platt, Kleener.«

Ich starrte ihn einen Moment lang an, versuchte mich noch einmal hochzustemmen und kam wankend auf die Füße. Sofort begannen sich die Straße und der Himmel wie wild vor meinen Augen zu drehen. Ich wäre abermals gestürzt, hätte Rowlf mich nicht gestützt.

»Wir müssen weg«, sagte ich mühsam. »Schnell, Rowlf. Sonst sind wir beide tot.«

Seltsamerweise blieb Rowlf ernst; die spöttische Bemerkung, auf die ich wartete, kam nicht. »Der Mann, der dich vom Dach geworfen hat?« fragte er.

Erstaunt sah ich auf. »Du hast ihn gesehen?«

»Nur sein’ Schatten«, antwortete Rowlf. »Wer warn das gewesn?«

»Das wirst du schneller erfahren, als dir lieb ist, wenn wir nicht verschwinden«, antwortete ich. Instinktiv sah ich nach oben. Aber das Dach war leer. Natürlich, dachte ich bedrückt. Eisenzahn mußte genauso wie Rowlf gesehen haben, daß ich den Sturz überlebt hatte. Wahrscheinlich war er jetzt schon auf dem Weg hier herunter. Wenn er noch nicht hier war, dann nur, weil ich an der Rückseite des Hauses abgestürzt war und das Gebäude keinen Hinterausgang hatte.