Der Stockdegen schien wie von selbst aus seiner Scheide zu springen. Ich riß die Waffe in die Höhe - und stieß sie mit aller Gewalt in den zerfetzten Krater in Eisenzahns Gesicht, wo sein Kunstauge gesessen hatte. Die Klinge glitt eine halbe Handbreit in seinen Metallschädel hinein, traf auf Widerstand und bog sich durch, als ich noch einmal mit aller Macht nachstieß.
Ein heller, peitschender Laut erscholl. Blaue Funken sprühten aus dem Riß in Eisenzahns Schädel, und plötzlich lief ein hauchdünner blauweißer Blitz in einem irrsinnig schnellen Zickzack über die Klinge meines Degens. Für einen Moment schien der gesprungene Knauf aus gelbem Kristall wie unter einem unheimlichen, inneren Feuer aufzuglühen. Weißblaue Feuerlinien zeichneten die Konturen des Shoggotensternes nach, der darin eingegossen war. Dann raste der Blitz weiter und verschwand in meiner Hand.
Ein gräßlicher Schmerz zuckte durch meinen Arm und ließ jeden einzelnen Nerv darin vibrieren. Ich prallte schreiend zurück und versuchte den Degen loszulassen, aber es ging nicht. Meine Finger klebten unverrückbar am Metall des Degens, und aus Eisenzahns Schädel zuckten noch immer dünne, verästelte Blitze. Mein Herz kam aus dem Rhythmus. Ich taumelte, fiel auf die Knie und warf mich mit aller Macht zurück. Und diesmal gelang es mir, die Hand vom Griff des Stockdegens loszureißen.
Es war vorbei, ehe ich zu Boden stürzte. Ein letzter, grellblauer Blitz zuckte aus Eisenzahns Schädel, dann verstummte das schrille Wimmern, und aus seinen Ohren, dem Mund und der Nase kräuselte sich dünner, grauer Rauch. Das mörderische Feuer in seinem unversehrt gebliebenem Auge erlosch.
Obwohl die grellen Entladungen aufgehört hatten, schien mein rechter Arm noch immer in Flammen zu stehen. Mein Herz hämmerte wie rasend und durch einen blutgetränkten Nebel sah ich, wie Rowlf neben mir auf die Knie sank und die Hand nach meinen Schultern ausstreckte.
Dann verlor ich zum dritten Mal an diesem Tage das Bewußtsein.
»E2 auf E4«, sagte Sarim.
Howard runzelte die Stirn, sagte aber nichts, sondern blickte nur konzentriert auf das gewaltige Schachbrettmuster vor sich herab. Sarims Zug war alles andere als originell. Genaugenommen war es eine Eröffnung, wie sie jeder Anfänger gemacht - und damit von vornherein verloren - hätte.
»E7 auf E5«, sagte er schließlich. »Du enttäuschst mich, Sarim. Als ich das letzte Mal gegen dich gespielt habe, warst du ein Meister.«
De Laurec wartete, bis sich die hundegroße Bauernfigur klappernd auf das angegebene Feld bewegt hatte, ehe er antwortete. »Wer weiß, Bruder«, sagte er. »Vielleicht bin ich aus der Übung. Oder du hast nachgelassen.« Er machte eine einladende Handbewegung. »D2 auf D4 - dein Zug, Bruder.«
Howard starrte den dunkelhäutigen Puppet-Master sekundenlang an, ehe er sich wieder auf das Schachbrett konzentrierte. Das Feld war so wie alles, was es in de Laurecs Haus gab: gigantisch und vollgestopft mit technischen Spielereien. Als Schachbrett diente das Schwarzweiß-Muster der Bodenfliesen in Sarims großem Salon, wobei jedes Feld gute anderthalb Meter im Quadrat maß. Entsprechend groß waren die Figuren. Die beiden Königsbauern, die sich jetzt in der Mitte des Feldes gegenüberstanden, hatten die Größe zehnjähriger Kinder und bestanden aus silbernem - beziehungsweise goldfarbenem - Metall. Und sie ähnelten auch wirklich zwergenwüchsigen Bauern.
Sarims Damenbauer stand jetzt neben seinem Königsbauer und somit auf einem Feld, auf dem Howard ihn schlagen konnte. Was sollte das, dachte er. Ein Spieler von de Laurecs Format opferte keine Figur, wenn er nicht etwas ganz Bestimmtes dabei im Sinne hatte. Einen Moment überlegte er, das Angebot anzunehmen und die Figur zu schlagen. Dann schüttelte er den Kopf, ging mit raschen Schritten zu seiner Grundlinie zurück und berührte seinen Damenbauer an der Stelle, die de Laurec ihm gezeigt hatte. Rasselnd setzte sich die Metallfigur in Bewegung und blieb stehen, als Howard die Hand zurückzog. »D7 auf D5«, sagte er.
De Laurecs linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. »Du schlägst ihn nicht?« fragte er. »Das wundert mich. Hast du Hemmungen?«
»Vielleicht«, sagte Howard leise. »Dein Zug.«
»Ich weiß.« De Laurecs Lächeln wurde eine Spur kälter. »Ich nehme dein Angebot jedenfalls an. E4 auf D5. Bauer schlägt Bauer.«
Die silberne Bauernfigur rutschte klirrend auf das bezeichnete Feld. Howards Damenbauer wurde beiseite gestoßen, blieb einen Moment klirrend und scheppernd auf dem Nachbarfeld stehen - und trollte sich vom Brett.
Doch er erstarrte nicht wieder zur Bewegungslosigkeit, wie Howard angenommen hatte. Aus seinem Inneren erscholl ein leises, metallisches Klicken, und plötzlich schoß einer der Metallarme vor. Rasiermesserscharfer Stahl blitzte dort, wo die Finger des Bauern sein sollten.
De Laurecs hämisches Kichern ging in Howards Schmerzensschrei unter, als sich die vier winzigen Klingen in dessen Wade bohrten.
Der Himmel über der Stadt wurde langsam grau. Es mußte irgendwann zwischen vier und fünf Uhr morgens sein, und so, wie es aussah, würde auch dieser Tag wieder mit Regen und unzeitgemäßer Kälte über Paris hereinbrechen. Beinahe automatisch kroch meine Hand zur Weste, um die Taschenuhr hervorzuziehen, aber dann führte ich die Bewegung nicht zu Ende. Selbst dazu war ich zu müde. Das regelmäßige Schaukeln der Kutsche begann eine einlullende Wirkung auf mich auszuüben.
»Gleich simmer da«, sagte Rowlf. Die Worte drangen nur undeutlich durch den dämpfenden Mantel aus Müdigkeit und Schwäche, der sich zwischen mein Denken und die Welt gesenkt hatte. Ich blinzelte, richtete mich ein wenig in den Polstern der Mietdroschke auf und lugte müde durch eine zerschlissene Stelle in den Vorhängen. Es war noch nicht hell genug, um viel von der Umgebung zu erkennen. Aber nach dem wenigen, was ich sah, glaubte ich nicht, daß es eine Gegend war, die ich mochte.
Müde blinzelte ich zu Rowlf hinüber. Er sah so erschöpft und mitgenommen aus, wie ich mich fühlte. Seine rechte Hand war unförmig angeschwollen und lag wie ein Klumpen nutzlosen Fleisches auf seinem Schoß. Sein Gesicht war zerschunden und blutig, und in seinen Augen hatte sich zu dem Ausdruck von Erschöpfung und Schmerz noch der einer tiefen, quälenden Sorge gesellt. Wir hatten die halbe Stadt durchquert, ehe es mir - unter Zuhilfenahme meiner suggestiven Kräfte und einer Summe, die ausgereicht hätte, den altersschwachen Zweispänner zu kaufen - endlich gelungen war, einen Wagen zu bekommen. Das Dutzend anderer Kutscher, das wir vorher angesprochen hatten, hatte uns entweder davongejagt oder so getan, als existierten wir nicht. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Wer nimmt schon mitten in der Nacht zwei Fremde auf, von denen der eine aussieht wie Frankensteins großer Bruder nach einer Schlägerei und der andere keine Schuhe anhat und nach verfaultem Gemüse stinkt?
Die Kutsche schaukelte um eine Straßenbiegung und wurde ein wenig schneller, und ich sah abermals aus dem Fenster. Die Gegend schien mit jedem Yard, den die Kutsche zurücklegte, schäbiger zu werden. Die Häuser waren schwarz vor Ruß und jahrzehntealtem Schmutz, und die kleinen Fenster schienen wie blind gewordene Augen auf uns herabzustarren. Müde versuchte ich, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das hinter meiner Stirn herrschte, und dachte noch einmal über das nach, was ich von Rowlf erfahren hatte. Er hatte in einem Straßencafe am Opernplatz gewartet, wie Howard es ihm befohlen hatte, aber Lovecraft war lange vor Ende der Vorstellung wieder aufgetaucht - nur, um sofort in eine Kutsche zu springen und zu verschwinden, ehe Rowlf auch nur recht begriffen hatte, was vorging. Alles, was wir noch hatten, war die Adresse eines Mannes, von dem nichts außer seinem Namen wußten - und der Tatsache, daß er Howard haßte. Nicht gerade die idealen Voraussetzungen dafür, in einer Stadt wie Paris einen einzelnen Mann zu finden; einen Mann dazu, der sicher alles in seiner Macht Stehende tun würde, seine Spur zu verwischen.