»Wir hätten ihn inne Sahne schmeißn solln«, drang Rowlfs Stimme in meine Gedanken.
Ich sah auf, starrte ihn einen Moment unverstehend an und fragte: »Wen?«
»Den Blechkopp«, antwortete er. »s’ wird ne Menge Ärger gern, wenner gefunden wird. War besser gewesen, wir hättn verschwinden lassen.«
Ich nickte, zuckte gleich darauf mit den Achseln und sah demonstrativ aus dem Fenster. Natürlich hatte Rowlf recht. Es würde mehr als nur ›Ärger‹ geben, wenn die menschengroße Puppe gefunden wurde und Madame Dupre ihre Aussage machte. Aber es war zu spät für solcherlei Überlegungen - und ich hatte auch keine Lust mehr, darüber nachzudenken. Eine Stadt mehr, in der es besser für mich war, mich nicht mehr blicken zu lassen, dachte ich. Was machte das schon? Allmählich begann ich mich daran zu gewöhnen, an jeden Ort nur einmal zurückzukehren.
»Wir sind da«, sagte Rowlf plötzlich. Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, streckte die Hand nach der Türklinke aus und öffnete sie, kaum daß der Wagen gehalten hatte. Regen und ein Schwall eisiger Luft schlugen mir ins Gesicht, als ich auf die Straße hinabsprang. Weiter im Westen, über dem Zentrum der Stadt, wetterleuchtete das blaue Gleißen eines Gewitters. Sekunden später ertönte der erste, noch gedämpfte Donnerschlag.
Der Wagen fuhr weiter, nachdem Rowlf ausgestiegen war. Der Fahrer würde die beiden sonderbaren Gäste vergessen, die er mitten in der Nacht durch halb Paris kutschiert hatte, und sich am nächsten Morgen über das Bündel Geldscheine wundern, das in seiner Rocktasche war, dafür hatte ich gesorgt. Einen Moment lang wünschte ich mir, daß alle Probleme so leicht zu lösen wären - mit Geld und ein wenig Hokuspokus. Aber das würde wohl immer ein frommer Wunsch bleiben. Oder ein dummer; je nachdem.
Rowlf deutete auf einen winzigen Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dessen Fensterscheiben matt im grauen Licht der Dämmerung blinkten. »Dort.«
Seine Stimme klang gepreßt, und ich war sicher, daß es nicht nur die Müdigkeit war, die ich darin hörte. Einen ganz kurzen Moment lang zögerte er noch, dann ging er, schräg gegen den Wind und den Regen geneigt, über die Straße und blieb vor der Tür des Ladens stehen.
Ich folgte ihm. Die Kälte schien zuzunehmen, als ich neben Rowlf stehenblieb, und für einen Moment glaubte ich, ein helles metallisches Klirren unter dem Heulen des Windes zu hören. Erschrocken fuhr ich herum. Aber die Straße war leer.
»Was ist los?« fragte Rowlf alarmiert.
»Nichts«, antwortete ich. »Ich bin nervös, das ist alles.«
Rowlfs Blick sagte mir sehr deutlich, wie wenig er mir diese Erklärung abnahm. Aber er ging nicht weiter auf meine Worte ein, sondern wandte sich wieder dem Laden zu, streckte die Hand nach der Türklinke aus und rüttelte prüfend daran.
Die Tür war offen.
Rowlf runzelte verwundert die Stirn, sah mich einen Herzschlag lang an und trat dann vollends in den Laden hinein. Ich folgte ihm, nicht, ohne vorher noch einen sichernden Blick auf die Straße zu werfen. Sie war noch immer leer.
Rowlf wartete, bis ich neben ihn getreten war, dann schob er die Tür vorsichtig wieder ins Schloß, bedeutete mir mit Gesten, ein Stück beiseite zu treten, und griff in die Tasche. Sekunden später glühte die gelbe Flamme eines Streichholzes auf und schuf eine flackernde Halbkugel aus Licht in der grauen Dämmerung, die den Laden erfüllte.
»Hallo?« machte Rowlf. »Is einer da?«
Er bekam keine Antwort. Das Streichholz brannte knisternd ab und erlosch, und Rowlf riß ein zweites an. »Is hier einer?« rief er noch einmal. »Kaspa - biste da?«
Sekundenlang herrschte Stille, dann klangen irgendwo in der Dunkelheit vor uns Schritte auf. Rowlfs improvisierte Fackel erlosch wieder, und die Schritte kamen näher, während er nach einem weiteren Zündhölzchen kramte. Es waren sehr schwere Schritte. Nicht die Schritte des Mannes, als den Rowlf mir Gaspard beschrieben hatte. Instinktiv wich ich ein wenig weiter in die Dunkelheit zurück und legte die Hand auf den Griff meines Degens. Nach der Nacht, die hinter uns lag, hatte ich keine sonderliche Lust auf neuerliche Überraschungen.
»Zum Teufel - da ist doch einer!« raunzte Rowlf. »Sin Sie das, Kaspa?«
»Wenn Sie Monsieur Gaspard meinen, mein Freund, dann lautet die Antwort eindeutig nein«, antwortete eine Stimme aus der Dunkelheit. Ich kannte diese Stimme. Aber ich wußte nicht, woher. Lautlos zog ich den Degen aus dem Gürtel.
Rowlf knurrte etwas Unverständliches, riß sein drittes Streichholz an und fluchte ungehemmt los, als der Schwefelkopf absprang und seine Finger versengte. Aus den Schatten vor ihm erscholl ein leises tiefes Lachen. »Sparen Sie sich die Mühe, mein Freund«, sagte die Stimme. »Ich mache Licht - warten Sie.«
Sekunden später glomm das milde weiche Licht einer Petroleumlampe im hinteren Teil des Ladens auf, und ein schmalschultriger, weißhaariger Mann trat hinter einem der Regale hervor. In seinen Augen, die in ein Netz winziger verästelter Fältchen eingebettet waren, glomm ein spöttisches Funkeln auf, als er erst Rowlf ansah und dann in meine Richtung blickte.
»Und auch Sie sollten mit dem Versteckspielen aufhören und herauskommen, Mister Craven. Und stecken Sie die Waffe weg. Wir sind nicht Ihre Feinde, das wissen Sie doch«, sagte Jean Balestrano.
»E5 auf F3«, sagte Sarim triumphierend. »Schach, mein lieber Freund.«
Howard duckte sich instinktiv, obwohl er wußte, wie sinnlos es war. Sarims Springer - eine mehr als zwei Meter große Scheußlichkeit, die wie ein säbelzahniger Alptraum von Pferd aussah - sprang mit einem gewaltigen Satz auf das angegebene Feld und zermalmte Howards vorletzten Bauern. Ein Hagel winziger, scharfkantiger Stahlsplitter brach aus den Nüstern des silbernen Riesenpferdes und traf Howards rechte Hand. Gleichzeitig zuckte ein blauweißer Blitz aus der Stirn der Eisenkreatur und traf den schwarzen König, und ein zweiter Schmerz zuckte durch Howards Körper. Er fiel auf die Knie und stemmte sich mit letzter Kraft wieder hoch. Vor seinen Augen begann sich das Schachfeld zu verzerren.
»Dein Zug, mein Freund«, sagte de Laurec gehässig. »Und wenn ich dir einen Rat geben darf - streng dich ein wenig an. Matt in vier Zügen, würde ich sagen.«
Howard ignorierte seine Worte und versuchte verzweifelt, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Seine Gedanken wirbelten ziellos durcheinander, und jeder einzelne Schlag seines Herzens vibrierte als dumpfer Schmerz bis in seinen Schädel. Wenn er sich nur konzentrieren könnte! Er hatte gespielt wie nie zuvor in seinem Leben. Mehr als die Hälfte von Sarims Figuren war geschlagen, aber auch die schwarzen Reihen hatten sich gelichtet - und für jede geschlagene Figur war eine neue Wunde in seinem Körper hinzugekommen. Er hatte kaum noch die Kraft, zu stehen, und das Denken fiel ihm immer schwerer.
»E1 auf ... F1«, sagte er mühsam. Rasselnd setzte sich sein König in Bewegung und kroch von dem bedrohten Feld herunter. De Laurec schüttelte tadelnd den Kopf.
»Das war nicht besonders klug«, sagte er. »Du hast meine Königin übersehen, fürchte ich. Dame G8 schlägt Bauer C4 und bietet Schach.«
Howard spannte sich, als die gewaltige silberne Dame diagonal über das Feld herangerast kam und seinen letzten Bauern niederwalzte. Ein handlanger Metallpfeil raste heran und bohrte sich in seine Schulter; eine halbe Sekunde später glühte der schwarze König unter einer neuerlichen Entladung grellblauer elektrischer Energie auf. »F8 auf ... G8«, stöhnte Howard.
Sarim seufzte. »Du enttäuscht mich wirklich, Bruder«, sagte er. »Dame C4 auf D4 und schon wieder Schach.«