Diesmal betäubte ihn der elektrische Schock beinahe.
Sekundenlang versuchte Howard die schwarzen Schleier zu vertreiben, die sein Bewußtsein zu verschlingen drohten. Sarims Gestalt schien sich wie in einem Zerrspiegel zu biegen, als er zu ihm aufsah.
»War das wirklich so klug?« fragte de Laurec. »Du wirst sterben, wenn du nicht acht gibst.«
»Das ... glaube ich nicht«, stöhnte Howard. »Du warst schon immer ein guter Spieler, Sarim, aber du machst noch heute die gleichen Fehler wie vor zehn Jahren.«
»Ach?« fragte de Laurec. »Und welche?«
»Du ziehst zu schnell«, murmelte Howard. Er wollte aufstehen, aber seine Muskeln versagten. »Dieser Zug ... kostet dich die Königin«, keuchte er. »Springer C2 schlägt Dame D4.«
Mit letzter Kraft stemmte er sich hoch und sah zu seinem Pferd hinüber. Die Figur rührte sich nicht.
»Was bedeutet das?« flüsterte er. »Willst du ... mich betrügen?«
De Laurec schüttelte den Kopf. »Keineswegs, Howard. So wenig, wie ich deinen Springer übersehen habe. Ich möchte dir nur Gelegenheit geben, dir diesen Zug noch einmal zu überlegen. Ich spiele fair, weißt du?«
Mühsam taumelte Howard auf die Füße, wischte sich mit der Hand Blut und Tränen aus den Augen und drehte den Kopf. Die verschiedenfarbigen Figuren und Felder begannen wie wild auf und ab zu hüpfen, und es kostete ihn unendliche Überwindung, die einzelnen Figuren und ihre komplizierten Stellungen zueinander zu erkennen. Er konnte kaum mehr denken. Er hatte die Falle, in die Sarims Königin gelaufen war, sorgsam aufgebaut und das zweifache Schach und den Schmerz, den es bedeutet hatte, bewußt in Kauf genommen. Wenn de Laurecs Königin fiel, hatte er gewonnen. Selbst wenn seine Konzentration weiter sank, war seine zahlenmäßige Überlegenheit groß genug, die wenigen verbliebenen weißen Figuren einfach vom Brett zu fegen.
»Bleibst du dabei?« fragte Sarim lächelnd.
Howard starrte ihn aus brennenden Augen an. »Warum sollte ich nicht?«
»Nun ...« Der Puppet-Master kam ein paar Schritte näher und blieb unmittelbar neben der weißen Königin stehen. »Vielleicht siehst du dir die Figur erst einmal genauer an.« Er lächelt, hob die Hand und berührte die schimmernde Metallbrust der menschengroßen Statue. Ein leises Klicken erscholl, und ein Teil des bizarren Gesichtsvisiers schob sich summend zur Seite. Dahinter kam ein bleiches, angstverzerrtes, menschliches Gesicht zum Vorschein.
Howard schrie auf. »Ophelie!« Für einen Moment flammte der Zorn so heftig in ihm auf, daß er sogar den Schmerz und die Schwäche hinwegfegte. »Sarim!« brüllte er. »Du Ungeheuer. Du hast versprochen -«
»Was habe ich versprochen?« unterbrach ihn de Laurec eisig. »Ich habe versprochen, dir eine Chance zu geben. Die hast du bekommen. Besiege mich, wenn du kannst.« Er kicherte böse. »Du brauchst nur diese Königin zu schlagen, und du hast praktisch gewonnen. Ich gebe zu, daß du der bessere Spieler bist. Also - bleibt es bei deinem Zug?«
»Sie hätten nicht herkommen sollen, Mister Craven«, sagte Balestrano. Er sprach leise, fast ohne Betonung und sehr langsam, als müsse er jedes einzelne Wort genau überlegen, wie man es bei alten Männern häufig antrifft. Aber der Blick seiner Augen strafte den Eindruck von Alter und Gebrechlichkeit Lügen. So wie beim ersten Mal, als ich dem Oberhaupt des Templerordens begegnet war, spürte ich die Macht, die dieser Mann ausstrahlte, mit fast körperlicher Wucht.
»Wer is das?« schnappte Rowlf. »Kennste den Alten, Robert?«
Ich nickte, machte eine rasche, besänftigende Geste in Rowlfs Richtung und trat einen Schritt auf Balestrano zu.
»Was ... was wollen Sie hier?« fragte ich stockend. Ich hatte die Überraschung, ausgerechnet Jean Balestrano an diesem Ort zu treffen, noch immer nicht überwunden. »Wir haben nichts mit Ihnen und Ihrer Sekte zu schaffen, Balestrano. Mischen Sie sich nicht ein.«
Der alte Templer seufzte. Ein Ausdruck von Trauer erschien in seinem Blick, den ich im ersten Moment nicht zu erklären vermochte. »Sie werden verletzend, Robert«, sagte er leise. »Sie wissen sehr wohl, daß unser Orden keine Sekte ist. Und nicht wir mischen uns ein, sondern Sie sind es, der sich in Dinge einmischt, mit denen er absolut nichts zu schaffen hat. Was wollen Sie hier?«
»Wir suchen jemanden«, antwortete Rowlf grob.
»Monsieur Gaspard, nehme ich an«, sagte Balestrano. »Aber ich muß Sie enttäuschen. Er ist nicht mehr hier.«
»Nicht mehr hier?« wiederholte ich. »Wo ist er? Was haben Sie mit ihm gemacht, Balestrano?«
»Gemacht?« Der Tempelritter lächelte wieder sein sonderbares mildes Lächeln, schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung mit der Linken, die den ganzen Laden einschloß. »Wir haben nichts mit ihm gemacht, Robert«, sagte er sanft. »Ich habe lediglich dafür gesorgt, daß er für eine Weile die Stadt verläßt, nachdem er Howard unsere Nachricht hat zukommen lassen.« Er lächelte weiter, aber etwas in diesem Lächeln änderte sich plötzlich; sein Blick wurde hart.
»Womit wir beim Thema wären«, fuhr er fort. »Ich nehme an, Sie beide sind hier, um nach Bruder Howard zu suchen.«
Rowlf wollte auffahren, aber ich brachte ihn mit einer beruhigenden Geste zum Schweigen und trat einen weiteren Schritt auf Balestrano zu. Die Schatten hinter ihm bewegten sich. Stoff raschelte, dann klirrte hinter und neben mir Metall. Wir waren nicht allein. »Nicht Bruder Howard, Balestrano«, sagte ich betont. »Wir suchen unseren Freund Howard. Ich hoffe, der kleine Unterschied ist Ihnen klar.«
Balestrano seufzte. »Robert, Robert«, murmelte er kopfschüttelnd. »Ich weiß einfach nicht, was ich mit Ihnen machen soll. Auf der einen Seite sind Sie ein wirklich begabter junger Mann, der tausend gute Gründe hätte, auf unserer Seite zu stehen. Und noch dazu kann ich mich eines gewissen Gefühls der Sympathie Ihnen gegenüber nicht erwehren. Andererseits versuchen Sie ständig, sich in Angelegenheiten zu mischen, die Sie absolut nichts angehen.«
»Lassen Sie Howard frei, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Ihren Weg nie wieder zu kreuzen«, sagte ich zornig.
Balestrano antwortete nicht, sondern starrte mich sekundenlang durchdringend und mit einem sehr sonderbaren Blick an. Dann schüttelte er den Kopf und klatschte in die Hände. Fünf hochgewachsene Gestalten in den weißen Zeremoniengewändern der Templer lösten sich aus den Schatten und umringten Rowlf und mich. Keiner von ihnen sagte ein Wort, aber ihre Hände lagen drohend auf den Griffen der wuchtigen Breitschwerter, die in ihren Gürteln steckten.
Rowlf knurrte wie ein gereizter Hund. Aber selbst er schien einzusehen, wie sinnlos es wäre, mit Gewalt gegen diese Übermacht vorgehen zu wollen. Es waren nicht einfach nur fünf Männer, denen wir gegenüberstanden, sondern Tempelherren; Männer, die zu der gefürchtetsten Kriegerkaste gehörten, die es vielleicht jemals gegeben hatte. Ich hatte einmal gesehen, wie sie zu kämpfen verstanden. Und ich würde den Anblick niemals wieder vergessen.
So wenig, wie ich das Gesicht des dunkelhaarigen Templers vergessen würde, der direkt neben Balestrano Aufstellung genommen hatte.
»Ger«, murmelte ich. »Du also auch. Bist du hier, um nachzuholen, was dir in Amsterdam mißlungen ist?«
Looskamp fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Sein Blick flackerte, und ich sah, wie sich seine Hand fester um den Schwertgriff krampfte. »Ich kann dich verstehen, Robert«, sagte er leise. »Aber was ich getan habe, mußte getan werden.«
»Ich weiß«, antwortete ich. Plötzlich fühlte ich Wut, Wut und den sinnlosen, aber fast übermächtigen Wunsch, ihn zu verletzen. »Ich bin vielleicht dumm, Ger, aber nicht ganz so dumm, wie du zu glauben scheinst. Ihr brauchtet einen Köder, um den Wächter des Labyrinths zu überlisten. Aber du gestattest vielleicht, daß ich es nicht besonders lustig fand, dieser Köder zu sein.«
»Du hast es überlebt, oder?« fragte Looskamp trotzig.