»Sie wollten euch nicht«, murmelte ich. »Sie wollten auch mich nicht. Nur Lady Audley.«
»Aber warum?«
Ich antwortete nicht, sondern warf einen bezeichnenden Blick auf Cohen, der noch immer wie hypnotisiert in den rauchenden Krater hinunterstarrte und von unserem Gespräch gar nichts mitzubekommen schien.
»Aber das ... das ist doch unmöglich!« stammelte Cohen. Mühsam löste er den Blick von den Überresten der Kapelle und sah sich um. Der Ausdruck von Unglauben machte dem langsam aufkeimenden Entsetzen Platz, als er den geschändeten Friedhof sah. »Warum haben sie das getan?!«
Der Unterton von Hysterie in seiner Stimme entging weder Howard noch mir. Cohen war ein starker Mann, aber auch einer, der es gewohnt war, die Dinge logisch zu betrachten und - wenn es sein mußte - handfest anzupacken. Was er jetzt erlebte, mußte sein Weltbild bis in die Grundfesten erschüttern.
»Woher wußten Sie, wo ich bin?« fragte ich, nur, um ihn abzulenken, bevor er vollends die Beherrschung verlieren konnte. »Von Howard?«
Einen Moment lang starrte er mich an, als hätte er meine Worte gar nicht verstanden, dann schüttelte er abgehackt den Kopf. »Sie haben eine Fahrkarte gekauft, oder?« sagte er. »Es hat eine Weile gedauert, aber der Mann am Schalter hat sich erinnert.« Er schluckte krampfhaft, wollte weitersprechen und schüttelte dann nur den Kopf.
Ich sah Howard an. »Ihr habt einen Wagen da?«
Howard deutete stumm zur Straße. Es ging mir längst nicht nur darum, Wilbur Cohen hier herauszubringen. Auch ich verspürte plötzlich fast panische Angst, auch nur noch eine Sekunde länger an diesem schrecklichen Ort zu bleiben.
Zwei Stunden später saßen wir im Arbeitszimmer meines Hauses am Ashton Place 9. Nicht nur zu meiner Überraschung hatte Cohen darauf verzichtet, uns allesamt in Ketten nach Scotland Yard zu schleifen, sondern nur stumm genickt, als ich Rowlf die Anweisung gab, auf dem schnellsten Wege nach Hause zu fahren. Sein Gesicht war noch immer so bleich wie die weißgestrichene Wand, vor der er saß, und das unstete Flackern in seinen Augen hatte zwar nachgelassen, war aber nicht ganz erloschen. Er hatte sich wieder gefangen; äußerlich. »Es muß eine logische Erklärung geben«, sagte er. »Vielleicht waren die Ratten krank. Oder irgend etwas hat sie in Panik versetzt.« Seine Stimme zitterte ein wenig, während er diese Worte sprach, und es war ein Ton darin, der sie zu einem verzweifelten Flehen werden ließ.
Ich sah ihn nur an und schwieg. Meine Hand, die die Kaffeetasse umklammerte, zitterte.
»Die Wissenschaft hat sogar einen Namen für ein solches Verhalten«, fuhr er fort. »So etwas ist schon vorgekommen; mehr als einmal.«
Howard, der auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz genommen hatte und die Luft in meinem Arbeitszimmer mit seinen schwarzen Zigarren verpestete, nickte. »Massenhysterie«, bestätigte er. »So etwas gibt es -«
»Sehen Sie!« sagte Cohen triumphierend, und Howard fügte im gleichen ungerührten Tonfall hinzu: »- bei Menschen, Cohen. Tiere haben nicht das Bewußtsein, das nötig ist, sie in eine Massenhysterie zu versetzen. Fragen Sie einen Anthropologen, wenn Sie mir nicht glauben.«
Cohen fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und begann einen Bleistift in kleine Stücke zu zerbrechen.
Howard sah mich an, auf eine sehr bezeichnende Weise, und ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wir hatten bisher keine Gelegenheit gefunden, allein miteinander zu reden, aber ich wußte, was dieser Blick bedeutete - eine Warnung, Cohen nicht noch mehr zu verraten, als er ohnehin schon wußte. Vielleicht war dieses Wenige schon zu viel. Bisher war jeder, der mit den GROSSEN ALTEN und ihren Schergen in Berührung gekommen war, auf die eine oder andere Weise zu Schaden gekommen. Außerdem war Cohen nicht der Mensch, der uns glauben würde. Nicht, weil er Howard und mir mißtraute, sondern einfach, weil er es nicht konnte, wollte er nicht alles, was er jemals gelernt und geglaubt hatte, einfach vergessen. Irgendwann - und wahrscheinlich schon sehr bald - würde der Schock nachlassen, und der alte, ewig mißtrauische und sehr logisch denkende Wilbur Cohen würde wieder erwachen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er reagierte, wenn wir ihm etwas von zweihundert Millionen Jahre alten Dämonen erzählten.
»Wir müssen Lady Audley finden«, sagte ich anstelle einer direkten Antwort.
»Wie stellen Sie sich das vor?« schnappte Cohen. »Soll ich zu meinen Vorgesetzten gehen und sagen, daß ich Männer brauche, um ... um einem Haufen Ratten nachzuspüren, die Lady McPhearson entführt haben, vor meinen Augen?« Er lachte schrill. »Vielleicht lassen wir jede Ratte in London verhaften, wie? Oder ich suche mir eine bequeme Zelle in der Klapsmühle - gleich neben Ihnen.«
In der Tat - Wilbur Cohen befand sich auf dem Wege der Besserung.
Aber ich blieb ernst. »Sie verstehen immer noch nicht, wie?« fragte ich. »Das waren nicht irgendwelche Ratten, Cohen. Sie haben gesehen, was passiert ist. Das war eine Armee.«
»Unsinn!« schnaubte Cohen. »Das war -«
»Vielleicht erst der Anfang«, fiel ihm Howard ins Wort. »Vielleicht sind sie jetzt auf den Geschmack gekommen. Was sie mit dieser Kapelle getan haben, können sie auch mit anderen Häusern tun, nicht wahr?«
Cohen starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder fing.
»Trotzdem«, sagte er. »Ich kann nicht hingehen und ... und erwarten, daß mir irgend jemand glaubt. Ich ... ich glaube es ja selbst nicht.«
»Natürlich nicht«, antwortete Howard mit einem dünnen, sofort wieder erlöschenden Lächeln. »Erzählen Sie einfach, was passiert ist - nicht in St. Aimes, aber gestern, auf dem Weg zum Yard. Berichten Sie Tatsachen, mehr nicht. Erzählen Sie, daß eine große Masse von Ratten am hellichten Tage unsere Kutsche angegriffen und einen Ihrer Leute verletzt hat. Sie haben Dutzende von Zeugen.«
Cohen starrte ihn an, legte den zerbrochenen Bleistift aus der Hand und begann seinen Füllfederhalter auseinanderzuschrauben. Tinte lief an seiner Hand herab, während er die Bakelitkappe zerkrümelte. »Das ist verrückt.«
»Stimmt«, bestätigte Howard. »Aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Wir müssen ...« Er brach ab, seufzte und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Wenn wir wenigstens eine Spur hätten. Verdammt, es gibt Hunderttausende von Ratten in London. Und Tausende von Orten, an denen sie sich aufhalten können.«
»Aber nur eine Albinoratte«, sagte ich nachdenklich. »Wenn wir sie finden, finden wir Lady Audley.«
»Oh, das ist ja ganz einfach!« höhnte Cohen. »Lady McPhearson ist verschwunden, und niemand -«
»Niemand«, unterbrach ihn Howard mit leicht erhobener Stimme, »nimmt Ihnen die Verantwortung ab, wenn morgen hunderttausend Ratten über die Bewohner dieser Stadt herfallen und unschuldige Frauen und Kinder töten, Cohen.«
Cohen schluckte, warf den Füllfederhalter auf den Schreibtisch und riß mit kleinen fahrigen Bewegungen Blätter von meinem Tischkalender, um sie zu kleinen Bällen zusammenzupressen und davonzuschnipsen. »Sie ... übertreiben«, sagte er schließlich.
»Möglich«, sagte ich, in die gleiche Bresche schlagend wie Howard. »Vielleicht greifen sie auch nicht offen an, sondern beschränken sich darauf, ein paar wehrlose Kinder in ihren Betten anzufallen, oder die Kranken in den Hospitälern.«
Cohens Gesichtsfarbe hatte jetzt einen deutlichen Stich ins Grünliche. »Und wenn alles nur falscher Alarm war?« fragte er, während er mit Daumen und Zeigefinger die Nieten aus meiner ledernen Schreibunterlage zog und zusammendrückte.
»Erfährt niemand etwas davon«, sagte Howard. »Sie brauchen nur das artenuntypische Verhalten der Ratten vorzubringen, Cohen. Sagen Sie, daß Sie Angst haben, sie könnten tollwütig sein, meinetwegen.«