Er schluckte. Ein harter, stacheliger Kloß schien in seiner Kehle zu wachsen, als er weitersprach.
»Ist es ... schlimm?«
Maine seufzte. Er richtete sich auf, fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Augen und sah ihn nun doch an. Sein Blick flackerte.
»Er ... wird leben«, sagte er schließlich. »Und soweit ich das beurteilen kann, ist er geistig gesund.«
Lowry lachte, aber es klang eher wie ein Schrei. »Geistig?« wiederholte er bitter. »Wie schön. Sie meinen, er wird völlig normal sein, hier oben?« Er hob die Hand an die Stirn und starrte den Arzt aus brennenden Augen an. »Er wird ganz normal aufwachsen, und eines Tages wird er denken lernen, und kurz darauf reden, und irgendwann wird er vor mir stehen oder hocken oder was immer er kann, und er wird mich fragen: Daddy, warum bin ich nicht so wie die anderen? Was soll ich ihm antworten, wenn er diese Frage stellt? Daß er für etwas bezahlt, was sein Urururgroßvater getan hat?«
»Bitte, Lowry«, sagte Maine sanft. »Ich ... ich verstehe dich, glaube mir. Aber es hätte schlimmer sein können.« Er versuchte zu lächeln, trat auf ihn zu und legte ihm in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter.
Lowry wich zurück und schlug seinen Arm beiseite. »Schlimmer?« keuchte er. »Sie wissen nicht, was Sie da reden, Doc! Es kann immer schlimmer kommen, aber ... aber das heißt noch nicht ...daß ...« Er begann zu stammeln, ballte in plötzlichem, hilflosem Zorn die Fäuste und spürte, wie seine Augen zu brennen begannen und heiße Tränen über sein Gesicht liefen. Er schämte sich ihrer nicht einmal.
»Haben Sie Kinder, Doktor Maine?« fragte er leise.
Maine nickte. »Drei«, antwortete er. »Ein Mädchen und zwei Jungen.«
»Und sie sind gesund?«
Maine antwortete nicht, aber Lowry hätte seine Worte wohl auch kaum gehört, selbst wenn er es getan hätte. »Sie wissen nicht, wie es ist«, fuhr er mit bebender Stimme fort. »Oh ja, Sie verstehen mich, Doc, das glaube ich Ihnen gerne. Schließlich sind Sie lange genug hier, um mich zu verstehen. Sie haben genug Kinder wie meinen Sohn gesehen, wie? Aber Sie verstehen trotzdem nicht. Sie können nicht verstehen, wie man sich fühlt, wenn es einen trifft. Niemand kann das. Niemand, dem es nicht selbst passiert ist.«
Seine Stimme begann immer stärker zu beben. Plötzlich zitterte er am ganzen Leib. »Ich will nicht mehr, Doktor«, keuchte er. »Ich ... ich habe zu lange stillgehalten. Ich werde diesen Wahnsinn beenden. Ich -«
»Beruhige dich«, sagte Maine sanft. Er klappte seine Tasche auf, kramte einen Moment darin herum und zog schließlich ein kleines Etui hervor, aus dem er eine Spritze nahm.
»Ich gebe dir etwas«, sagte er. »Danach wirst du schlafen, und morgen früh reden wir noch einmal in Ruhe über alles.«
Er hob die Spritze und streckte die freie Hand nach Lowrys Arm aus, aber Temples wich mit einem keuchenden Laut zurück und hob abwehrend die Hände.
»Nein!« sagte er entschlossen. »Ich will keine Spritze. Wenn Sie jemandem eine Spritze geben wollen, dann gehen Sie durch diese Tür und erlösen die arme Kreatur von ihren Leiden.«
Maine starrte ihn an. »Versündige dich nicht«, sagte er ernst. »Das Kind kann am allerwenigsten dafür.«
»Das stimmt.« Mit einem Male war Temples Stimme ganz kalt. Alle Furcht und alle Verzweiflung waren daraus gewichen, aber dafür schwang eine Entschlossenheit in seinen Worten, die den Arzt schaudern ließ.
»Sie haben vollkommen recht, Doktor«, sagte er. »Das Kind kann nichts dafür, und Sie und ich und Jane auch nicht. Aber es gibt jemanden, der dafür kann -«
»Hör auf«, sagte Maine sanft. »Das ist lange vorbei. Zu lange, um noch etwas daran ändern zu können.«
»- und dieser Jemand ist hier«, fuhr Temples fort, als hätte er die Worte des Arztes gar nicht gehört.
Maine erstarrte. »Was redest du da?« fragte er. »Du ... du bist verwirrt, Lowry.«
»Ganz und gar nicht, Doc«, antwortete Temples. »Ich weiß, was ich sage. Er ist hier. Er lebt, Doktor. Der Teufel lebt, und er ist nicht einmal sehr weit von Innsmouth weg.«
»Das ist unmöglich«, behauptete Maine. Aber sein Blick flackerte, und seiner Stimme fehlte die Entschlossenheit, die zu solchen Worten gehörte.
Trotzdem fuhr er fort: »Es ist fast zweihundert Jahre her, Lowry. Das weißt du besser als ich.«
»Und doch lebt er«, beharrte Temples. Plötzlich fuhr er herum, riß seinen Mantel vom Haken und begann ihn mit fliegenden Fingern überzustreifen. Sein Gesicht rötete sich hektisch.
»Fragen Sie die anderen, wenn Sie mir nicht glauben«, fuhr er fort. »Fragen Sie Floyd und Bannister und Malone - sie haben ihn gesehen.«
»Gesehen?« keuchte Maine.
Temples nickte. »Vorgestern«, sagte er. »Er kam in die Schänke. Sie alle haben ihn gesehen. Ich auch.«
Maine schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist nicht möglich«, murmelte er. »Es ... es muß sich um eine Verwechslung handeln. Jemand, der so aussieht wie er. Das kommt vor.«
»Er war es«, beharrte Lowry. »Ich habe es gespürt, genau wie die anderen. Er hat die gleiche Macht wie damals, Doktor. Ich habe das Böse gespürt, wie eine Hand, die mir die Kehle zuschnürte. Er ... er hat uns angegriffen. Und er hat gesiegt - er allein, gegen zwölf von uns. Er lebt.«
Maine starrte ihn lange an. »Und was willst du jetzt tun?« fragte er schließlich.
Temples lachte, ganz leise und verbittert. »Das, was schon vor zweihundert Jahren hätte getan werden sollen«, sagte er. »Ich weiß, daß es meinen Sohn nicht normal macht und den Fluch vielleicht nicht einmal von uns nimmt. Aber ich werde ihn bestrafen für das, was er mir und den anderen angetan hat, und unseren Kindern. Ich werde den Hexer töten.«
»Hältst du es wirklich für eine gute Idee, noch einmal hierher zu kommen?«
Meine eigene Stimme klang mir fremd in den Ohren, sie zitterte und ihr Klang verriet mehr von meiner Nervosität, als mir recht war. Aber Howard antwortete nicht auf meine Worte, sondern zuckte nur mit den Achseln. Dann schnippte er seine kaum angerauchte Zigarre aus dem Fenster und öffnete die Tür der zweispännigen Kutsche.
»Komm mit«, sagte er einfach.
Der Wagen hatte schon an der Ortstafel angehalten, und die ersten Häuser lagen noch ein gutes Stück vor uns. Es war noch nicht richtig hell, so daß sie sich nur als buckelige Schatten vor dem grauen Hintergrund der Dämmerung abhoben. Die Lichter, die hier und da hinter den Fenstern zu sehen waren, wirkten auf sonderbare Weise farblos und blaß, als würde ihr Schein von einem unsichtbaren Schleier halb aufgesogen.
Ein rascher, eisiger Schauer lief auf dünnen Spinnenbeinen meinen Rücken hinab, als ich hinter Howard aus dem Wagen stieg. Der Morgen schien mir selbst für einen April ungewöhnlich kühl, aber es war nicht allein die äußere Kälte, die mich frösteln ließ.
Der Ort, der sich vor uns auf der Kuppe des Hügels ausbreitete, bot ein Bild des Friedens und der Ruhe, aber ich wußte nur zu gut, daß dieser Eindruck täuschte.
»Ist das das Haus?«
Howard deutete mit einer knappen Geste auf ein heruntergekommenes, halb verfallenes Gebäude zur Linken.
Eine Zeitlang starrte ich das dreigeschossige graue Haus an, blickte verwirrt nach rechts und links und nickte schließlich; wenn auch weniger aus wirklicher Überzeugung, als vielmehr in Ermangelung eines anderen Hauses, auf das ich statt dessen hätte deuten können.
Das Gebäude lag an der Stelle, an der es sein mußte, und nach allem, was mir mein logischer Verstand sagte, mußte es das richtige sein.
Verwirrend war nur, daß es ganz und gar nicht so aussah, wie ich es in Erinnerung hatte ...
»Dann komm«, sagte Howard. Er lächelte, aber seine Stimme klang unsicher. Er war nervös. Dabei hätte wohl eher ich von uns beiden mehr Grund gehabt, nervös und unruhig zu sein.