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Im gleichen Augenblick brach die Hölle los. Aus der gewaltigen, disziplinierten Rattenarmee wurden wieder zahllose einzelne Tiere, hirnlose Kreaturen ohne wirkliches Bewußtsein. Die Ratten flohen in Panik, griffen sich gegenseitig an und bissen nach allem, was sich bewegte. Eine braune Flutwelle raste über mich hinweg, schleuderte mich abermals von den Füßen und riß auch Howard und Lady Audley und Cohen nieder. Verzweifelt wälzte ich mich herum, schlug die Arme über den Kopf und hielt den Atem an. Messerscharfe Krallen zerrissen meinen Rücken. Ein Dutzend Bisse ließen mich aufschreien, und eine Ratte versuchte in ihrer Angst gar, unter meinen Mantel zu kriechen.

Dann war es vorbei. Der Schmerz und die ekelhafte Berührung der weichen warmen Rattenleiber vergingen, und auch das Trappeln wurde in Sekunden leiser und verklang dann ganz.

Vorsichtig nahm ich die Hände vom Kopf, wagte es, die Augen zu öffnen, und sah mich um.

Die Ratten waren verschwunden. Ein paar vereinzelte Tiere irrten noch umher oder kämpften blindwütig miteinander, aber das bizarre Heer hatte sich in Sekunden in nichts aufgelöst, als der lenkende Wille erloschen war und die Tiere wieder ihrem Instinkt gehorchten.

Eine Hand berührte mich an der Schulter, und als ich aufsah, blickte ich in Howards zerschundenes Gesicht. »Alles in Ordnung?« fragte er.

Ich nickte, stemmte mich vollends in die Höhe und sah mich gründlicher um. Cohen, Lady Audley und er schienen mit dem Schrecken davongekommen zu sein.

»Warum?« flüsterte Howard fassungslos.

Warum? Ich hätte ihm die Antwort sagen können, in diesem Moment, aber ich schwieg, weil sie mir trotz allem einfach noch zu phantastisch erschien.

Die grauen Herren ... Großer Gott, Kilian, dieser alte Säufer, hatte es gewußt, und die Ratten selbst hatten versucht, es mir zu sagen: das Tier, das auf dem Friedhof vor meinen Augen von den anderen zerrissen worden war, die Ratten, die Cohens Wagen angriffen, damit ich entkommen konnte ... die mir den einzig freigebliebenen Weg nach St. Aimes gezeigt hatten. Aus seinem Kerker heraus, in dem Shub-Niggurath seit zweihundert Millionen Jahren schlief, hatte er sich die Ratten Untertan gemacht, um seine Erweckung vorzubereiten. Und die Leiche eines Mädchens, um sie zu führen. Doch die Intelligenz, die er den Ratten zwangsläufig gab, war ihm zum Verhängnis geworden. Sie hatten die Gefahr erkannt, die ihnen und den Menschen von dem GROSSEN ALTEN drohte, und sich gegen ihn gewandt. Nachdem Cindy meine magischen Kräfte bemerkt hatte, hatten sie mich ganz gezielt hierher gelenkt, damit ich ihren verzweifelten Kampf beendete.

»Warum?« sagte ich nach einer Weile und stand auf. Mein Blick tastete über die unzähligen, leblosen grauen Bälle, Shub-Nigguraths Opfer. »Weil sie die Herren sind, Howard.«

Howard starrte mich fassungslos an, aber ich sagte nichts mehr, sondern ging langsam zu Lady Audley hinüber.

Lady Audley hatte sich auf die Knie aufgerichtet und Cindys Kopf in ihren Schoß gebettet. Sie hatte den schrecklichen Knochenhelm entfernt, den das Mädchen getragen hatte, und ihre Hände strichen unentwegt über Cindys Wangen.

Das Mädchen lebte. Ihre Brust hob und senkte sich in schweren, unregelmäßigen Stößen, und ihre Augen waren geschlossen, aber sie lebte.

Vorsichtig kniete ich neben Lady Audley nieder, lächelte ihr beruhigend zu und legte die Hand auf Cindys Stirn. Für einen Moment hatte ich fürchterliche Angst, mich getäuscht zu haben und wieder die Anwesenheit dieses schrecklichen Ungeheuers zu spüren, das ich durch die Augen der Ratte gesehen hatte.

Aber da war nichts. Die Bestie war fort, ebenso wie Shub-Niggurath, ihr Herr, von dem sie vielleicht nur ein Teil gewesen war.

Lady Audley sah mich aus Augen an, in denen eine verzweifelte Hoffnung glomm, die aber gleichzeitig auch dunkel und groß vor Angst waren.

»Sie ... sie ist doch sie selbst, oder?« stammelte sie. »Sie ist nicht mehr ... nicht mehr besessen? Sie wird leben?«

»Ich glaube schon«, antwortete ich vorsichtig. Ich versuchte erst gar nicht, es wirklich zu verstehen, aber vermutlich war es wirklich so, wie Lady Audley behauptet hatte: das Ding hatte Cindys Körper wiedererweckt, weil es ihn brauchte, aber etwas von der wirklichen Cindy war mit aufgewacht, ein Teil ihrer Seele, der Mensch geblieben war. Und er existierte weiter.

Und wie um meine Worte zu bestätigen, schlug Cindy in diesem Moment die Augen auf. Ihr Blick war klar, spiegelte aber tiefe Verwirrung.

»Tante ... Aude?« flüsterte sie, ganz im Ton eines Menschen, der aus einem tiefen Schlaf erwachte und nicht begriff, wo er war. »Was ... was ist passiert? Ich war krank und ...« Sie stockte und fuhr entsetzt zusammen, als sie sich ihrer Umgebung bewußt wurde.

»Großer Gott, was ist das für ein entsetzlicher Ort?« fragte sie. »Wo bin ich? Mein Gott, ich hatte so einen schrecklichen Traum. Ich träumte, ich wäre tot, und -«

Ich hörte nicht mehr hin, sondern stand auf und wandte mich ab, um Lady Audley wenigstens für einen Moment ganz ihrer Wiedersehensfreude zu überlassen. Es würde ihr noch schwer genug fallen, Cindy zu erklären, daß ihr Traum kein Traum gewesen war, und daß er die Kleinigkeit von zwanzig Jahren gedauert hatte.

Als ich mich umwandte, begegnete mein Blick dem Stan Cohens, der aus hervorquellenden Augen auf das Mädchen starrte und ganz offensichtlich an seinem Verstand zweifelte.

»Wissen Sie, wie wir hier herauskommen?« fragte ich.

Cohen nickte, ohne den Blick von Cindy zu nehmen.

»Dann sollten wir es tun«, fuhr ich fort, »bevor Ihr Bruder mit der halben englischen Armee hier auftaucht.« Und zu Howard gewandt, fügte ich hinzu:

»Ich bin gespannt, was Captain Cohen jetzt gegen mich unternimmt. Einen Mord kann er mir ja jetzt nicht mehr nachweisen. Erinnere mich daran, Dr. Gray zu fragen, ob es in England strafbar ist, eine Tote wiederzuerwecken.«

ENDE