Ein leises Stöhnen drang in seine Gedanken. Mühsam wandte er den Kopf, rutschte unbeholfen mit gefesselten Armen und Beinen herum und verdrehte den Hals, bis er auf den Mann herabsehen konnte, der auf der anderen Seite lag, so gründlich gefesselt wie er und Rowlf, aber womöglich noch schlimmer zugerichtet.
Es war ein bizarrer Anblick. Jetzt, nachdem er Zeit und Muße gehabt hatte, das Gesicht des anderen in aller Ruhe zu studieren, war die Ähnlichkeit nicht mehr ganz so frappierend. Trotzdem hatte er im ersten Moment wieder das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen.
Der Mann neben ihm hatte sein Gesicht.
Stöhnend öffnete der Fremde die Augen, versuchte sich aufzusetzen und sank mit einem schmerzerfüllten Keuchen zurück.
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Howard amüsiert. Eine morbide Heiterkeit stieg in ihm empor. Fast hätte er gelacht.
»Was ... o Gott, was ist passiert?« murmelte der Fremde. Erneut versuchte er sich aufzusetzen, und diesmal gelang es ihm. Als sein Gesicht in den schmalen Streifen grauer Helligkeit geriet, der durch eines der Fenster fiel, sah Howard, daß sein linkes Auge zugeschwollen und die Wange darunter blau und grün angelaufen war. Außerdem löste sich sein Bart ab.
»Das hätte ich gerne von Ihnen gewußt«, antwortete er ruhig. »Warum erzählen Sie mir nicht alles? Zeit genug zum Reden haben wir, denke ich. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Lovecraft«, sagte der andere undeutlich. Der Blick seines offenen Auges war verschleiert; er schien noch nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgefunden zu haben. »Howard Lovecraft. Ich -«
»Hören Sie auf«, unterbrach ihn Howard ärgerlich. »Das ist wirklich nicht der richtige Augenblick für makabere Scherze.«
Der andere stockte, blinzelte ein paarmal mit nur einem Auge und sah Howard verwirrt an. Dann flammte Schrecken in seinem Blick auf.
Howard lächelte schadenfroh. »Na, endlich wach?«
»Was ...« Der Mann stockte, sah sich verwirrt um und begann mit einem Male wie wild an seinen Fesseln zu zerren.
Howard wartete geduldig, bis sein Gegenüber die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen eingesehen hatte. Dann lehnte er sich zurück, so weit es die unbequemen Fesseln zuließen.
»Wenn Sie das bißchen Verstand, das Sie zu haben scheinen, wieder zusammengekratzt haben, können wir vielleicht reden«, sagte er freundlich.
»Reden?« Die Stimme des anderen bebte. Panik loderte in seinem Blick. Sein Atem ging schnell und stoßweise. »Wo sind wir hier? Was ... was ist passiert?«
»Wo wir hier sind, weiß ich so wenig wie Sie«, antwortete Howard geduldig. »Und was passiert ist, sollten Sie besser wissen als ich.«
»Ich weiß gar nichts. Ich bin Howard Love -«
»Verdammt, hören Sie auf!« brüllte Howard. »Ich bin Howard Lovecraft, nicht Sie. Und ich will wissen, wer Sie sind und wer Sie geschickt hat!«
Sein Doppelgänger starrte ihn an und schwieg. Howard musterte ihn genauer. Die Ähnlichkeit war nicht mehr so groß wie zu Anfang - der Bart war falsch und das Haar gefärbt, das konnte er jetzt sehen, und der andere war ein wenig dicker im Gesicht als er. Die Schläge und das Blut hatten die Schminke verschmiert, so daß das wahre Gesicht des anderen durch die Maske hindurchschimmerte. Trotzdem mußte er ihm auch so ähnlich sehen wie ein Bruder.
»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte der andere schließlich. Seine Stimme hörte sich an, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen.
»Vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfe«, murrte Howard. »Sie haben Rowlfs und meine Abwesenheit ausgenutzt, um an meiner Stelle mit Robert Craven Kontakt aufzunehmen. Aus dem einzigen Grund, in den Besitz des NECRONOMICONS zu gelangen. Soweit richtig?«
Der andere schwieg beharrlich, aber er hatte sein Gesicht nicht gut genug unter Kontrolle, als daß Howard die Antwort nicht aus seinen Zügen ablesen konnte.
»Also richtig«, sagte er zufrieden. »Übrigens - mein Kompliment. Die perfekteste Maske, die ich jemals gesehen habe. Wer hat Sie geschickt? Der Orden?«
Diesmal versagte die Selbstbeherrschung des anderen endgültig. Ein erschrockenes Keuchen kam über seine Lippen. »Sie ... wissen ...«
Howard lachte hart. »Halten Sie mich für einen Trottel, Sie Mister Doppelgänger? Ihre Brüder jagen mich seit zehn Jahren. Ich habe gewußt, daß Sie eines Tages kommen würden. Sie oder jemand wie Sie. Wie ist Ihr Name? Ich finde es ziemlich albern, Sie ständig mit Howard anreden zu sollen.«
»Van der Groot«, sagte der andere leise. »Henk van der Groot.«
»Holländer?«
Van der Groot nickte. Sein Blick bohrte sich in die graue Dunkelheit hinter Howard.
»Hören Sie zu, van der Groot«, sagte Howard geduldig. »Sie und ich sind Feinde, wie die Dinge liegen, aber ich schlage vor, wir schließen einen Burgfrieden. Wenigstens, bis wir hier heraus sind.«
Van der Groot starrte ihn an. »Heraus?« krächzte er. »Sie sind von Sinnen, Lovecraft. Niemand entkommt den Drachenkriegern. Ich dachte, das wüßten Sie.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte Howard lächelnd. »Außerdem schadet ein Versuch nicht, oder?«
Es dauerte lange, bis van der Groot nickte. »Was ... haben Sie vor?« fragte er.
»Zuerst einmal müssen wir diese verdammten Fesseln loswerden«, antwortete Howard. »Und danach werden wir sehen, ob Necrons Leibgarde wirklich so unbesiegbar ist, wie man sagt, Rowlf!«
Der breitschultrige Riese knurrte, zog die Beine an den Leib, so weit es die Fesseln zuließen, und begann über den feuchten Steinboden heranzukriechen. Auch Howard bewegte sich, schwang vor und zurück und kippte schließlich langsam zur Seite. Ein unterdrückter Schmerzlaut entrang sich seinen Lippen, als er auf den harten Steinboden aufschlug.
Van der Groot beobachtete ihn mit einer Mischung aus Unverständnis und Neugier. »Was haben Sie vor?« fragte er.
Howard antwortete nicht, sondern rollte sich keuchend auf den Bauch, während Rowlf wie ein mißgestalter Riesenwurm auf ihn zurobbte. Schließlich lag der Kopf des Riesen nahe seinen zusammengebundenen Händen.
»Achten Sie ... auf die Tür«, keuchte Howard. »Es wäre ... peinlich, wenn gerade jetzt der Zimmerservice käme.«
Van der Groot runzelte die Stirn, verdrehte aber gehorsam den Hals, um zu der niedrigen Holztür am anderen Ende des Raumes zu starren. Nicht, daß es etwas genutzt hätte. Wenn jetzt jemand hereinkam, das wußten sie alle, dann wäre es aus.
Rowlf nahm die dünnen Liederriemen zwischen die Zähne und begann darauf herumzukauen. Seine mächtigen Kiefer mahlten hörbar, und die Muskeln an seinem Hals traten wie knotige Stricke durch die Haut.
Es dauerte lange, aber Rowlf ließ nicht locker. Blut lief an Howards Handgelenken herab, als die dünnen Lederriemen wie reißender Draht in seine Haut einschnitten, aber der schlanke Amerikaner gab keinen Laut des Schmerzes von sich. Endlich, nach zwanzig Minuten, rollte Rowlf mit einem erschöpften Keuchen herum und schloß die Augen. Sein Kinn war voller Blut.
Howard richtete sich auf, hob die Hände vor das Gesicht und massierte seine Gelenke. Dann löste er rasch die Fesseln, die seine Füße hielten, und befreite dann Rowlf.
»He!« sagte van der Groot, als Howard keine Anstalten machte, sich ihm zu widmen. »Und ich?«
Howard wandte sich mit einer betont langsamen Bewegung an den Holländer. Ein sonderbares Lächeln erschien auf seinen Zügen.
»Wir sollt’n einfach liegnlassn«, knurrte Rowlf. »Dieser Necron wird sich freuen, wenigstns noch ein ›Gefangn‹ zu haben.«
Van der Groot erbleichte. »Das ... das können Sie doch nicht machen!« keuchte er. »Die ... die werden mich umbringen, wenn Sie mich zurücklassen.«
»Möglich.« Rowlf grinste. »Aber ganz langsam. Sie wern was davon ham, denk ich.«
»Sie Tier!« keuchte van der Groot. »Lovecraft, Sie ... Sie werden mich doch nicht hierlassen!«