»Was haben Sie?« fragte Tornhill.
»Nichts.« Ich schüttelte hastig den Kopf und richtete mich ein wenig in dem Sessel auf, in den mich Tornhill und sein Assistent gedrückt hatten. »Sprechen Sie weiter.«
Tornhills Augenbraue glitt noch ein Stück weiter nach oben und erreichte jetzt fast den Scheitel. Aber er fuhr unbeeindruckt fort: »Das ist es eigentlich schon. Mit Ausnahme von acht Toten und zwei Bewußtlosen, heißt das.«
»Toten?« Wieder blitzte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Rowlfs Gesicht, verzerrt vor Schmerzen und über und über voller Blut. Howards verzweifelter Schrei. Das Ungeheuer ...
»Ihre Hausangestellten, Mister ... Craven«, antwortete Tornhill. »Und ein Mann, in dessen Tasche ein gefälschter Paß war, der auf den Namen ...« Er stockte, griff in die Innentasche des kleinen Zeltes, das er anstelle eines Überrockes trug, und nahm einen zerknitterten Paß heraus.
»Da haben wir es ja. Dr. Dr. Dr. Mortimer Gray«, las er vor und sah mich prüfend an. »Hat er gestottert?«
»Dr. jur, Dr. phil und Dr. med«, erklärte ich. Tornhill wußte recht gut, was die drei »Dr.« zu bedeuten hatten. »Hören Sie auf, den Deppen zu spielen, Tornhill.«
Ein amüsiertes Glitzern erschien in seinen Augen. »Wer war es wirklich?« fragte er.
»Wie kommen Sie darauf, daß dieser Mann nicht Dr. Gray war?« erwiderte ich; nur, um Zeit zu gewinnen. Wieder zuckten Bilder durch meinen Kopf. Und allmählich begannen sie sich zu einem Ganzen zu formen.
»Ich kenne Dr. Gray«, antwortete Tornhill. »Er ist ein berühmter Anwalt und Arzt, das sollten Sie wissen, Craven. Ich hatte oft genug mit ihm zu tun. Dieser Tote hier ist auf keinen Fall Dr. Mortimer Gray. Und ich hätte seinen falschen Paß nicht gebraucht, um es zu merken.«
Plötzlich stand er auf, knallte den Ausweis mit einer wütenden Bewegung auf den Tisch und funkelte mich an. Von seiner Ruhe war nichts mehr geblieben.
»Verdammt, Mister Craven«, schnauzte er. »Ich werde zu einem Haus gerufen, in dem ein Massaker stattgefunden hat, und alles, was ich von Ihnen höre, sind Fragen! Wie wäre es mit ein paar Antworten?« Er trat auf mich zu und beugte sich vor.
»Wo waren Sie?« brüllte er. »Meine Männer haben dieses Zimmer auf den Kopf gestellt, zweieinhalb Stunden lang, und es war keine Spur von Ihnen zu sehen!«
Ich hielt seinem Blick einen Herzschlag lang stand, ehe ich auf die Uhr deutete. »Dort ... drinnen«, sagte ich. »Sie haben mich doch selbst -«
»Hören Sie auf, Craven«, unterbrach mich Tornhill wütend.
»Sie können nicht die ganze Zeit dort drinnen gewesen sein. Sie wären erstickt, in dieser Kiste.«
Wieder gab die unsichtbare Hand einen Teil meiner Erinnerungen frei.
»Es ist ... keine Uhr«, sagte ich schleppend. »Dahinter ist noch ein Raum. Eine ... Bibliothek. Die Rückwand läßt sich öffnen.«
Tornhill starrte mich zweifelnd an, fuhr herum und walzte auf die offenstehende Uhr zu. Bei seiner Körperfülle war es ein Kunststück - aber er brachte es wirklich fertig, sich in die Uhr zu zwängen und seine fleischige Hand auf die Rückwand zu pressen.
Holz knirschte, dann schwang die Rückwand zur Seite und gab den Blick auf die Geheimbibliothek frei, die sich dahinter verbarg.
Meine Gedanken überschlugen sich. Die Information war plötzlich da gewesen, ein weiteres Bruchstück in dem Durcheinander hinter meiner Stirn. Es steckte Methode dahinter. Das war keine normale Amnesie, wie sie manchmal auftrat, wenn man bewußtlos gewesen war. Etwas kontrollierte meine Erinnerungen, mein Gedächtnis. Und dieses Etwas gab mir immer genau die Menge an Information, die ich unbedingt brauchte. Kein bißchen mehr.
»Eine Bibliothek, wie?«
Tornhill war durch die Uhr getreten und im angrenzenden Raum verschwunden. Seine Stimme erzeugte ein sonderbares, hallendes Echo.
Ich stand auf, näherte mich der Uhr - und blieb wie versteinert stehen, als mein Blick in die dahinterliegende Bibliothek fiel.
Der Raum war vorhanden - vielleicht fünf Schritte breit und dreimal so lang. An den Wänden standen Regale, auf denen hier und da noch die vermoderten Überreste von Büchern zu erkennen waren, grünweiße Klumpen von Schimmel und schleimigem Moder.
Tornhill war stehengeblieben. Als er meine Schritte hörte, drehte er sich um und sah mich vorwurfsvoll aus seinen kleinen Schweinsäuglein an.
»Ich weiß, daß es Ihre Sache ist, Craven«, sagte er. »Aber wenn Sie einen Rat von mir wollen - Sie sollten Ihre Putzfrau entlassen.«
Ich konnte ihm nicht widersprechen. Auf dem Fußboden - oder dort, wo eigentlich der Fußboden sein sollte - lag eine dreißig Zentimeter hohe Schicht aus schwarzem, ölig glänzendem Schleim, in die er bis über die Waden eingesunken war.
Die Gestalt schien geradewegs aus einem Alptraum entsprungen zu sein. Es war ein Mensch, aber das war nur noch an seinen Proportionen zu erkennen; und selbst die waren verschoben, als wäre der ganze Leib zusammengestaucht und auf grausame Art deformiert worden. Seine Haut war, wo sie nicht geschwärzt und verkohlt war, zerrissen und mit braunroten feuchten Krusten übersät, und durch die zerfetzten Kleider war der blanke Knochen zu erkennen. Necrons Stimme klang, als käme sie aus einem zermalmten Kehlkopf.
»O mein Gott!« keuchte Howard. »Was -«
Necron machte eine wütende Geste. »Der hilft Ihnen jetzt auch nicht mehr, Lovecraft«, zischte er. Aus seinen Worten sprach der Haß. »Schauen Sie mich ruhig an. Schauen Sie sich an, was dieser Hund Craven und ihr Gehilfe mit mir gemacht haben. Sie werden dafür bezahlen, das schwöre ich Ihnen!«
»Aber ich -« Howards Stimme versagte. Jetzt, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, der dem Anblick der fürchterlichen Erscheinung gefolgt war, begann er zu begreifen.
»Das waren ... Sie?« murmelte er ungläubig. »Sie selbst waren der Mann, der versucht hat, Robert zu ermorden?«
»Ermorden?« Necron lachte schrill. »Meinetwegen nennen Sie es so. Ich nenne es eine Hinrichtung.«
Van der Groot begann schrill zu wimmern. »Wer ist das, Lovecraft?« keuchte er. »Was bedeutet das?«
Howard machte eine unwillige Bewegung mit der Linken, um den Holländer zum Schweigen zu bringen, und trat gleichzeitig einen Schritt auf den verkrüppelten Magier zu.
Sofort spannte sich die Gestalt des Kriegers neben Necron. Howard blieb stehen.
»Warum das alles, Necron?« fragte er. Ein böses Lächeln spielte um seine Lippen. »Oder sollte ich Sie lieber Ab ...«
»Schweigen Sie!« Necrons Worte waren wie ein Peitschenhieb. »Sprechen Sie diesen Namen nicht aus, Lovecraft. Niemals!«
»Wie Sie wollen, Necron. Aber das beantwortet meine Frage nicht. Warum das alles? Warum haben Sie mich nicht von Ihren Killern ermorden lassen?«
»Wenn es Sie stört, kann ich es nachholen«, erwiderte Necron böse. »Aber ich will Ihre Frage beantworten. Ich brauche Sie.«
»Lovecraft, was ... was hat dieser Teufel vor?« wimmerte van der Groot. »Bitte, was ...?«
Necrons Hand machte eine blitzartige, kaum wahrnehmbare Bewegung. Die schwarze Gestalt des Drachenkriegers bewegte sich wie ein Schatten auf van der Groot zu. Seine Faust traf den Holländer am Kinn. Er brüllte, fiel nach hinten und krümmte sich auf dem Boden.
»Das war für den Teufel, vermute ich«, sagte Howard, ohne den Blick von der verstümmelten Gestalt des Alten zu nehmen. Er begriff es immer noch nicht ganz. Der logische Teil seines Bewußtseins sagte ihm mit aller Klarheit, daß er einer der geheimnisumwittertsten Gestalten gegenüberstand, die es jemals gegeben hatte, aber ein anderer, verborgener Teil seines Selbst weigerte sich einfach, die Tatsache anzuerkennen. Necron! Der Hexer der Drachenburg! Er stand einer lebenden Legende gegenüber. Einer Legende, die mit Blut und Tränen geschrieben war und eine endlose Geschichte des Leidens und der Furcht erzählte.