»Was wollen Sie von mir?« fragte er, wieder an den Alten gewandt.
»Von Ihnen gar nichts«, erwiderte Necron hart. »Ich will etwas mit Ihnen. Vielleicht werden Sie es nie begreifen, aber Sie haben noch einmal Glück gehabt, Lovecraft. Ginge es nach mir, würde ich Sie töten, Sie und diese beiden jämmerlichen Narren da. Aber es geht nicht nach meinem Willen. Die Aufgabe ist wichtiger.«
»Welche Aufgabe?« stammelte van der Groot. Wieder erhob der schwarzgekleidete Krieger die Hand, um ihn zu schlagen, aber diesmal hielt ihn Necron mit einer raschen Bewegung zurück.
»Sie und Ihre Brüder sind nicht die einzigen, die hinter einem gewissen Buch her sind, van der Groot«, sagte Howard leise. »Das da vorne ist gewissermaßen die Konkurrenz.« Er lachte leise und blickte Necron fest ins Gesicht. »Oder?«
Der Magier nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt, wie die einer Puppe, die von einem ungeschickten Spieler gelenkt wurde.
»Und jetzt lassen Sie mich weiterraten«, fuhr Howard fort. »Sie sind gekommen, um Robert zu töten, weil Sie in ihm den Erben Roderick Andaras erkannt haben. Aber dann ist irgend etwas geschehen, das Sie zu einer Änderung Ihrer Pläne bewegen hat. Was war es?«
Necron antwortete nicht. Seine rechte, unversehrte Hand ballte sich zur Faust.
»Cthulhu.«
Howard drehte verwirrt den Kopf und wandte sich dann ganz um. Van der Groot hatte sich wieder aufgesetzt und blickte voller Angst zwischen ihm, dem Alten und der hoch aufgerichteten Gestalt des Drachenkriegers hin und her. Aber seine Stimme war fest, als er weitersprach.
»Es ist Cthulhu, Lovecraft«, sagte er. »Wir ... der Orden ... haben Informationen erhalten. Unser Ordensherr hatte ... eine Vision. Er sah ... Cthulhu. Er ist wiederauferstanden, in alter Macht. Das ... das Wesen, das in Gestalt des Mädchens auftrat und Craven getötet hat, war ein Shoggote, von Cthulhu nach seinem Vorbild erschaffen.«
»Stimmt das?« fragte Howard. Natürlich antwortete Necron nicht, aber das war auch nicht nötig.
Es ergab alles seinen Sinn.
»So ist das also«, sagte Howard nachdenklich. »Sie kommen zurück, Necron. Die Mächte, denen Sie Ihre Seele verschrieben haben, sind lebendig geworden. Und sie fordern jetzt ihren Preis.« Er blickte nachdenklich in das zerstörte Gesicht des uralten Magiers. »Aber Sie sind nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Sie haben durch den Orden erfahren, daß Robert sich im Besitz des NECRONOMICONS befindet, und Sie wollen es haben. Glauben Sie wirklich, Sie könnten den GROSSEN ALTEN widerstehen?«
»Ich weiß es«, versetzte Necron zornig. »Sie mögen viel wissen, Lovecraft, aber Sie sind trotzdem ein Narr. Niemand außer mir ahnt, welche Macht das Buch dem gibt, der es wirklich zu lesen versteht. Es enthält Geheimnisse, denen selbst die ALTEN nicht gewachsen sind. Mit diesem Buch kann selbst ich ihnen die Stirn bieten.« Er lachte meckernd. »In gewissem Sinne sind wir sogar Verbündete. Wenigstens bin ich ein Mensch.«
»Da bin ich mir gar nicht so sicher«, antwortete Howard, wohlweislich aber so leise, daß Necron seine Worte nicht hören konnte. Laut sagte er: »Sie haben sich verrechnet, Necron. Cthulhu wird Ihren Verrat bemerken. Er wird Sie töten.«
»Nicht, wenn ich das Buch habe.«
»Sie ... Narr«, keuchte van der Groot. »Der einzige Mensch, der wußte, wo das Buch verborgen liegt, ist tot.«
»Robert ist nicht tot«, sagte Howard, ohne ihn anzusehen.
»Nein«, fügte Necron hinzu. »Und er wird mir das Buch aushändigen. Nicht wahr, Lovecraft?«
Howard schwieg, aber er wußte nur zu gut, wie recht der Alte hatte. Natürlich würde Robert das Buch herausgeben - aller Logik und allen Warnungen zum Trotz.
Es war ganz einfach. So einfach, daß er fast gelacht hätte. Necron hatte ein Pfand, gegen das Robert selbst seine Seele verkauft hätte. Ihn, Rowlf - und Priscylla.
»Sie ... müssen verrückt sein, Necron«, sagte Howard. Seine Stimme zitterte. »Sie bilden sich ein, gegen Wesen kämpfen zu können, deren Macht die von Göttern ist. Dabei sind Sie nichts als ein jämmerlicher Taschenspieler, im Vergleich zu ihnen.«
»So?« machte Necron. Howards Worte schienen ihn eher zu amüsieren als zornig zu machen.
»Sehen Sie sich doch an!« begehrte Howard auf. »Ich weiß nicht, wie Sie es gemacht haben, daß Sie noch leben - aber schon ein ganz normaler Mensch wie Robert hätte Sie um ein Haar getötet.«
Necron lachte leise, richtete sich auf und schnippte mit den Fingern. Eine hochgewachsene, ganz in schwarzes Tuch gekleidete Gestalt trat aus den Schatten hervor und blieb mit demutsvoll gesenktem Blick zwei Schritte vor ihm stehen. »Vielleicht war es Absicht, Lovecraft«, sagte er leise. »Vielleicht wollte ich ja, daß Sie mich so sehen - damit ich Ihnen beweisen kann, wie groß meine Macht wirklich ist. Schauen Sie!«
Und damit hob er die unversehrte Hand und machte eine rasche, befehlende Geste. Der Krieger trat näher, fiel auf die Knie herab und senkte das Haupt.
Necron begann zu summen. Seine Stimme wurde hoch, dann schrill, formulierte sinnlos erscheinende und doch irgendwie drohend klingende Worte.
Und dann ging eine unheimliche Veränderung mit ihm vor.
Sein zerstörtes Gesicht begann sich zu glätten. Die klaffenden Wunden schlossen sich. Die Blutkrusten verschwanden, zerbrochene Knochen fügten sich wieder zusammen, die gerissene Haut begann auf wundersame Weise zu heilen, in Sekunden, wozu die Natur Monate gebraucht hätte. Seine gebeugte, zusammengestauchte Gestalt straffte sich, die Schultern wurden wieder gerade, und unter dem zerrissenen schwarzen Stoff seiner Kutte drang ein fürchterliches Rascheln und Knistern hervor.
Der unheimliche Vorgang dauerte nicht einmal eine Minute. Als er vorüber war, war aus dem verkrüppelten Zerrbild eines Menschen ein alter, schwarzhaariger Mann mit scharfer Adlernase und dunklen, stechenden Augen geworden.
Und dort, wo der Drachenkrieger gekniet hatte, lag nur noch eine leere Kutte aus schwarzem Tuch.
»Was ist das hier?«
Tornhill sprach langsam, überdeutlich und über die Maßen betont, um seinen Worten das gehörige Gewicht zu verleihen. Daß seine Stimme dabei vor kaum verhohlenem Schrecken bebte, verdarb ihm den Effekt. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und auf der Stirnglatze perlte kalter Schweiß.
»Was ist das hier?« fragte er noch einmal. »Ein Irrenhaus oder was? Oder treiben Sie ein besonders ausgekochtes Spielchen mit mir, Craven?« Er beugte sich vor, zog mit spitzen Fingern den Stoff seiner Hose über dem rechten Bein nach oben und betrachtete angeekelt seine Schuhe. Er hatte den schwarzen Schleim mit einem Zipfel der Gardine abgewischt, aber aus Strümpfen und Hose hatte er das Zeug nur notdürftig herausbekommen.
Und den Geruch schon gar nicht.
»Also, Craven ...« Er setzte sich auf und atmete hörbar ein. »Ich fasse noch einmal zusammen - soweit ich die unglaubliche Geschichte, die Sie mir aufgetischt haben, richtig verstehe. Sie behaupten also, dieses Haus gestern bezogen zu haben. Ein Erbstück von Ihrem Vater, sozusagen.«
»Sozusagen«, bestätigte ich. Das Wort kam noch schleppend über meine Lippen. Die Klammer um mein Bewußtsein begann sich zu lockern, aber es war ein langer und beinahe schmerzhafter Prozeß, und die Informationen, die ich bekam - die man mir zubilligte, berichtigte ich mich in Gedanken -, waren sorgsam gefiltert. Ich wußte gerade genug, um Tornhills Fragen beantworten zu können, nicht mehr. Aber ich hatte auch zugehört, und bei allem Schrecken, mit dem mich Tornhills Worte erfüllt hatten, spürte ich trotzdem eine vorsichtige Erleichterung. Mary, die sich um Priscylla gekümmert hatte, war am Leben. Verletzt und in keinem guten Zustand, aber am Leben.
Priscylla selbst war verschwunden, genau wie Howard, Rowlf und Howards sonderbarer Doppelgänger. Und irgend etwas sagte mir, daß sie ebenfalls noch lebten. Ich spürte es einfach.