Der Krieger starrte ihn einen Moment unschlüssig an, dann wandte er sich um und verschwand mit raschen Schritten durch die Nebelwand. Wenige Sekunden später kam er zurück, in Begleitung Necrons. Hinter ihnen schoben sich zwei weitere Drachenkrieger durch die grauen Schwaden.
»Was wollen Sie?« fragte Necron unwillig. »Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Das glaube ich gerne«, antwortete Howard amüsiert. »Sie haben alle Hände voll zu tun, sich Cthulhu vom Halse zu halten, nicht wahr? So, wie ich ihn einschätze, wird er es Ihnen nachtragen, daß Sie seinen Befehl mißachtet haben.«
»Was geht Sie das an?« schnappte Necron.
»Nichts«, sagte Howard achselzuckend. »Ich dachte, wir könnten einen Handel abschließen.«
»Einen Handel?« Necrons gnadenlose Augen wurden schmal. »Was für einen Handel, Lovecraft?«
»Sie haben einen Fehler gemacht, Necron«, begann Howard. »Sie haben einen Befehl der GROSSEN ALTEN mißachtet, und Sie haben einen ihrer Pläne zum Scheitern gebracht, was vermutlich schlimmer ist.«
»Habe ich das?«
»Behandeln Sie mich nicht wie einen Narren«, sagte Howard zornig. »Robert ist noch am Leben. Ich weiß nicht, ob er das wirklich Ihrer Eigenmächtigkeit zu verdanken hat, aber da der Charakter der GROSSEN ALTEN noch miserabler sein dürfte als der Ihre, wird Cthulhu Sie garantiert zum Sündenbock machen.«
Wieder blieb Necron ihm die Antwort schuldig, und Howard fuhr fort:
»Sie wissen, daß es so ist. Vielleicht dauert es eine Zeit, bis er reagiert, aber wenn, wird seine Rache fürchterlich sein. Er wird Sie nicht einfach umbringen. Ich weiß nicht, was er tun wird, aber ihm fällt bestimmt etwas viel Amüsanteres ein - von seinem Standpunkt aus.«
»Was wollen Sie?« fragte Necron. Seine Stimme war kalt wie Eis, aber in seinen Augen blitzte es.
»Ihnen einen Handel vorschlagen«, sagte Howard. »Ich helfe Ihnen, wenigstens noch ein paar Tage zu leben. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, Ihre sagenhafte Bergfestung zu erreichen und sich dort zu verbarrikadieren - das soll nicht meine Sorge sein. Jedenfalls werden Sie dieses Land lebend verlassen.«
»Und wie?« fragte Necron lauernd.
Howard lächelte und schüttelte den Kopf. »So nicht, Necron. Erst meine Bedingung.«
»Sie haben keine Bedingungen zu stellen«, zischte Necron. »Aber bitte - sagen Sie, was Sie wollen.«
»Nichts, als daß Sie verschwinden«, antwortete Howard. »Sie gehen, nehmen Ihre Männer mit und lassen mich, Rowlf, van der Groot und das Mädchen frei. Und Sie lassen die Finger von Robert.«
»Mehr nicht?« fragte Necron sarkastisch.
»Mehr nicht«, erwiderte Howard. »Überlegen Sie es sich, Necron. Die Dinge haben sich durch Ihre Eigenmächtigkeit geändert. Sie kamen, um Robert zu töten und sich des Buches zu bemächtigen, aber ihr Verrat an Cthulhu hat alles geändert. Wir sind jetzt Verbündete, ob es uns paßt oder nicht. Wenn wir die GROSSEN ALTEN besiegen wollen, dann können wir das nur mit vereinten Kräften. Wenn es einer von uns allein versucht, wird er untergehen.«
»Sie unterschätzen mich, Lovecraft«, antwortete Necron hart. »Und Sie überschätzen sich. Aber gut - ich habe Ihre Forderung gehört. Was wollen Sie mir bieten?« Er kicherte. »Eine Schiffspassage über den Ärmelkanal?«
»Ein Tor«, antwortete Howard ruhig.
Diesmal vergingen Sekunden, ehe Necron antwortete.
»Sie ... wissen von den ... Toren?« fragte er zögernd.
Howard nickte. »Ja. Was glauben Sie, wie ich sonst so rasch von Arkham nach London kommen konnte, Necron? Ich weiß davon, und ich weiß auch, daß Sie das Tor, durch welches Sie hierhergekommen sind, nicht mehr benutzen können. So, wie es im Moment aussieht, können Sie überhaupt keines der Ihnen bekannten Tore benutzen. Die Wege, die Sie gehen, werden ausnahmslos von den GROSSEN ALTEN beherrscht und überwacht. Sie würden geradewegs in Cthulhus Rachen marschieren, wenn Sie eines der Tore benutzen würden.«
»Und Sie -«
»Ich kenne ein Tor, das nicht ihrem Einfluß unterliegt«, sagte Howard. »Ich weiß, wo es ist, und ich weiß, wie man es aktivieren kann. Seine Position gegen unsere und Roberts Freiheit.«
»Sie lügen!« behauptete Necron.
Howard setzte sein sonnigstes Lächeln auf.
Der Alte starrte ihn eine endlose Sekunde lang an, dann ballte er die Fäuste und trat wütend einen Schritt auf ihn zu. »Sagen Sie, wo es ist!« befahl er. »Sagen Sie mir den Standort!«
»Es ist hier in London«, erwiderte Howard seelenruhig. Necrons Zorn schien ihn nicht im geringsten zu beeindrucken. »Warum suchen Sie es nicht?«
Necron keuchte vor Zorn. »Ich könnte Sie zwingen!«
»Versuchen Sie es«, antwortete Howard. »Sie können eine Menge, Necron, das gebe ich zu. Aber gerade haben Sie behauptet, ich würde Sie unterschätzen. Begehen Sie nicht den gleichen Fehler! Ich bin kein Hexer wie Sie oder Robert, aber ich verstehe genug von Magie, um mich zu schützen. Selbst vor Ihnen.«
»So?« kreischte Necron. »Das wollen wir sehen.«
»Wenn Sie zum Beispiel versuchen sollten -« begann Howard.
Necron hob die Hände und begann dunkle Worte in einer gutturalen Sprache zu murmeln.
»- meinen Willen mit magischen Kräften zu brechen -«
Zwischen Necrons Fingern begann sich dünner grauer Rauch zu kräuseln. Rauch, der wie spinnenfingrige Hände durch die Luft auf Howard zuglitt und sein Gesicht umspielte.
»- dann könnte es durchaus sein, daß ich in meinem Unterbewußtsein einen hypnotischen Befehl verankert habe -«
Der Rauch ballte sich dichter. Necrons Stimme wurde höher und schriller, und plötzlich begann er wie ein Derwisch hin und her zu hüpfen. Die rauchigen Spinnenhände hüllten Howards Kopf so ein, daß sein Gesicht kaum noch zu erkennen war. Etwas bewegte sich zwischen ihnen.
»- der mich tötet, wenn ich das Geheimnis verraten will. Sie verwenden doch den gleichen Trick bei Ihren Männern, oder? Die sterben auch, ehe Sie irgend etwas gegen Sie tun oder sagen können.«
Necron erstarrte mitten in der Bewegung, mit offenem Mund und halb in der Luft erhobenen Händen. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als hätte er eine lebende Kröte verschluckt.
»Sie lügen!« behauptete er. Seine Stimme zitterte.
Howard zuckte mit den Schultern. »Stellen Sie mich auf die Probe, Necron. Einen Versuch haben Sie frei. Aber nur einen.«
Drei, vier endlose Sekunden starrte Necron Howard Lovecraft aus zornesblitzenden Augen an, dann ließ er die Hände sinken, ballte sie zu Fäusten und knirschte hörbar mit den Zähnen.
»Also gut«, sagte er. »Sie haben gewonnen. Jedenfalls für den Moment.«
»Sie willigen ein?«
»Einwilligen?« Necron schüttelte zornig den Kopf. »Nein, Lovecraft. So schnell nicht. Aber ich werde Sie noch nicht umbringen. Und ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken.«
»Tun Sie das«, rief Howard. »Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.«
»Zum hundertsten Male«, brüllte Tornhill. »Ich will wissen, was in diesem Haus vorgegangen ist, Craven. Alles. Jede Einzelheit.«
Dabei schlug er mit der flachen Hand auf die Platte des gewaltigen Schreibtisches, der den Großteil seines Büros ausfüllte. Jeder, der auf der anderen Seite dieses gewaltigen Möbelstückes auf dem unbequemen Besucherstuhl saß, mußte sich klein und schäbig vorkommen, zumal der Stuhl ein Gutteil zu klein geraten war und man zu Tornhill aufsehen mußte; ein ziemlich mieser Trick, und dazu nicht einmal besonders originell.
Aber er funktionierte, zumindest in meinem Fall. Ich wußte nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war, seit mich Tornhill von Rowlf fortgerissen und an zwei seiner Leute übergeben hatte.