Wir waren in Scotland Yard - zumindest nahm ich das an -, und dieser kleine Raum mit dem schmalen, zusätzlich vergitterten Fenster im zweiten oder dritten Stock war Tornhills Büro. Von der freundlichen, ja beinahe mitfühlenden Art, die er in meinem Haus an den Tag gelegt hatte, war nichts mehr geblieben. Vielleicht lag es daran, daß Tornhill hier gewissermaßen auf eigenem Boden kämpfte.
Vielleicht hielt er mich auch schlichtweg für einen Mörder.
»Also?« Er schrie jetzt nicht mehr, aber die Ruhe, mit der er sprach, war fast drohender.
Ich sah auf und fuhr mir mit dem Handrücken über die Stirn. Meine Augen brannten, und auf meiner Zunge lag ein pelziger bitterer Geschmack. Ich hatte Durst. »Ich habe Ihnen alles erzählt, Tornhill«, sagte ich leise. »Glauben Sie mir. Ich ... weiß nicht, wer meine Hausangestellten umgebracht und die anderen entführt hat.«
Tornhill starrte mich einen Moment mit unverändertem Ausdruck an, dann seufzte er, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch.
»Wissen Sie was, Craven?« sagte er. »Ich glaube Ihnen sogar.«
»Dann lassen Sie mich gehen«, stöhnte ich. »Ich kann Ihnen nicht helfen, begreifen Sie das doch endlich! Mein Gott, es sind meine Freunde, die diese Männer entführt -«
»Diese Männer?« unterbrach mich Tornhill. Seine Stimme klang lauernd. »Was für Männer, Craven? Woher wissen Sie, daß es Männer waren?«
»Ich glaube nicht, daß die Kidnapper Säuglinge waren, die aus ihren Kinderwagen gestiegen sind und ein Blutbad im Haus angerichtet haben«, antwortete ich wütend. »Ich weiß nicht, wer sie sind, und ich weiß noch viel weniger, wo Howard und Priscylla abgeblieben sind.«
»Ich behaupte ja auch gar nicht, daß Sie es wissen«, sagte Tornhill ruhig. »Aber Sie wissen mehr, als Sie zugeben, Craven. Sehr viel mehr!«
Er beugte sich vor, und wieder war seine Ruhe wie fortgewischt. »Verdammt, für wie blöd halten Sie die englische Polizei eigentlich?« schnauzte er. »Ich komme in ein Haus, in dem ein Massaker stattgefunden hat, ziehe Sie aus einer Uhr und finde ein Zimmer voller ... voller ...« Er suchte einen Moment krampfhaft nach den richtigen Worten. »Voller was-weiß-Ich. Und dann taucht einer ihrer vermißten Freunde buchstäblich aus dem Nichts auf und -«
»Warum lassen Sie mich nicht mit ihm reden?« unterbrach ich ihn. »Vielleicht hat er die Antworten auf ein paar von Ihren Fragen.«
»Das geht im Moment nicht«, antwortete Tornhill. Ich wußte, daß er die Wahrheit sagte. Er und seine Leute hatten mich fast sofort aus dem Zimmer gezerrt, nachdem Rowlf aufgetaucht war, doch ich hatte noch sehen können, in welch schlimmen Zustand Howards Leibdiener war.
»Wie geht es ihm?« fragte ich.
Tornhill zuckte die Achseln. »Er wurde ins Hospital gebracht«, sagte er. »Ich habe Anweisung gegeben, daß man mich sofort ruft, wenn er aufwacht.« Seine Augen wurden schmal. »Was hat er damit gemeint, Craven?«
»Womit?«
»Mit dem, was er gesagt hat, bevor er das Bewußtsein verlor«, sagte Tornhill gepreßt. »Und falls Sie es vergessen haben sollten, Craven - seine Worte lauteten: Er will dich, Robert. Er will dich haben!«
Er hätte es nicht zu wiederholen brauchen. Ich wußte nur zu gut, was Rowlf gemeint hatte. Trotzdem antwortete ich nach kurzem Zögern:
»Ich habe keine Ahnung, Tornhill.«
Zu meiner Überraschung explodierte der fettleibige Scotland-Yard-Mann nicht.
»Wie Sie wollen, Craven«, sagte er nur. »Dann eben nicht.« Er lächelte kalt, stand mit einem Ruck auf und kam um den Tisch herum auf mich zugewalzt. »Stehen Sie auf«, befahl er.
Ich gehorchte. »Was haben Sie vor?« fragte ich.
Tornhill lächelte dünn. »Ich sperre Sie ein, Craven«, antwortete er, in einem Ton, als hätte ich ihn gefragt, warum die Sonne morgens aufgeht. »Was denn sonst?«
Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich wich unwillkürlich ein Stück zurück. »Mit welcher Begründung?«
Tornhill ächzte. »Mit welcher Begründung? Sind Sie von Sinnen, Craven? Ich finde ein Dutzend Gründe, um Sie für zweitausend Jahre hinter Gitter zu bringen, wenn ich will.«
»Sagten Sie nicht gerade, daß Sie mich für unschuldig halten?«
»Möglich«, antwortete Tornhill lächelnd. »Aber das hat ja keiner gehört außer Ihnen, nicht?« Er wandte sich um, riß die Tür auf und machte eine einladende Geste. »Bitte, Mister Craven. Ihr Zimmer ist gerichtet.«
Das Geräusch, mit dem die Gittertür hinter mir zuschlug, klang in meinen Ohren wie das Zukrachen eines stählernen Sargdeckels.
Lange Zeit stand ich reglos da und lauschte auf das Klirren des Schlüssels, der sich hinter mir drehte, und das Pochen meines Herzens.
Gefängnistüren.
Sie ähnelten sich überall, ganz gleich, in welchem Land man war. Bevor ich nach England kam und ein neues Leben als reicher Millionenerbe antrat, hatte ich sie zu Dutzenden gesehen - von beiden Seiten -, und oft genug waren sie hinter mir verschlossen und erst nach Monaten wieder aufgemacht worden. Wegen lächerlicher Dinge wie dem Diebstahl eines Brotes oder ähnlicher »Kapitalverbrechen«.
Ich hatte gehofft, diesen Abschnitt meines Lebens ein für allemal hinter mir zu haben, nachdem ich das Erbe meines Vaters übernommen hatte, aber die Vergangenheit hatte mich eingeholt.
Es war zum Verzweifeln!
Die Klammer um meine Erinnerungen war noch immer da, wenngleich sie sich gelockert hatte und ich mich jetzt mehr und mehr auf die Dinge zu besinnen begann, die sich vor Howards und Priscyllas Verschwinden ereignet hatten.
Er will dich, Robert!
Rowlfs Worte schienen immer und immer wieder hinter meiner Stirn widerzuhallen. Er will dich!
Wer wollte mich? Wer war dieser Er, und was wollte er von mir? Wer hatte die Männer geschickt, die ich für Howard und Dr. Gray erhalten hatte, und -
Ich schüttelte den Kopf, um das taube Gefühl zwischen meinen Schläfen zu vertreiben, ging zu der schmalen Pritsche, die auf der anderen Seite in die Wand eingelassen war, und ließ mich daraufsinken. Fragen. Fragen über Fragen, aber keine Antworten.
Und der einzige Mensch, der vielleicht wenigstens ein bißchen Licht in das Dunkel bringen konnte - Rowlf -, lag in einem Krankenhausbett, unerreichbar und durch ein Dutzend verschlossener Stahltüren und eine Armee von Polizisten von mir getrennt.
Für einen Moment dachte ich ernsthaft daran, nach Tornhill zu rufen und ihn einzuweihen, ihm alles zu erzählen, von Anfang an. Aber ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er mir gekommen war.
Alles, was ich damit erreichen würde, war, daß ich die Zelle im Keller von Scotland Yard mit einer Gummizelle im nächsten Irrenhaus vertauschte. Tornhill konnte mir gar nicht glauben.
Ich ließ mich zurücksinken, legte den Kopf gegen den feuchtkalten Stein der Wand und schloß die Augen. Mein Körper verlangte nach Schlaf, und so, wie die Dinge im Moment standen, war ich sowieso dazu verdammt, in diesem Loch bis zum nächsten Morgen zu warten.
Vielleicht nicht nur bis zum nächsten Morgen. Es standen acht Tote auf der Sollseite meines Kontos, und wie ich Tornhill einschätzte, würde er sich an mich halten, wenn er niemand anderes fand, der die Rechnung beglich ...
Ich seufzte, rutschte auf der harten Pritsche in eine bequemere Stellung (wenigstens versuchte ich es) und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Der Schlaf kam fast sofort.
Die gestalt war in ein weißes nachtgewand gehüllt aber es war blutig und zerrissen das haar versengt und schwarz und die augen dunkle wunderschöne augen in denen goldener und silberner sternenstaub blitzen sollte waren voller tod alles war tot und blut und schrecken und priscyllas alabasternes antlitz hatte sich in eine fratze des grauens verwandelt das dämonische abbild eines wesens das nicht leben durfte und niemals gelebt hatte der sturz durch zeit und raum hatte uns getrennt aber es spürte mich folgte meiner fährte wie ein bluthund und kam näher ... näher ... näher ... näher ... ab und zu verschwand die gestalt wie ein schiff auf stürmischer see hinter den erstarrten schwarzen wogen der höllischen landschaft die die kulisse für unser bizarres Wettrennen bildete aber sie tauchte immer wieder auf und war jedesmal näher heran ganz egal wie schnell ich lief schien ihre geschwindigkeit immer eine winzigkeit höher zu sein als die meine und ich wußte daß ich ihr nicht entkommen konnte und ...