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Und das ich nie wieder in meinem Leben tun sollte.

Ich stand auf, hob den Arm und streckte die Hand nach Tornhill aus. »Kommen Sie her«, sagte ich.

Tornhill zögerte. Sein Blick tastete über meine bloße Hand, als fürchte er, daß sie sich jeden Moment in eine Schlange verwandeln könnte. Dann löste er sich von seinem Platz an der Tür, kam auf mich zu und berührte zögernd meine Finger.

Ich griff zu, ehe er auch nur Gelegenheit fand, einen Schreckensschrei auszustoßen. Meine Finger schlossen sich mit aller Gewalt um die seinen und preßten sie zusammen.

Und zum allerersten Mal in meinem Leben benutzte ich die Macht, die ich von meinem Vater geerbt hatte, in vollem Umfang.

Es war grauenhaft.

Mein Geist - ein Teil meines Geistes, etwas, von dem ich bisher nicht einmal wirklich gewußt hatte, daß es existiert, etwas Dunkles und Finsteres, das aus den tiefsten Abgründen meiner Seele emporquoll wie finstere Lava - berührte seinen Geist, zerschmetterte die Barrieren, die das menschliche Bewußtsein vor Wahnsinn und Verfall schützt, mit einem einzigen Schlag.

Für einen Moment, einen furchtbaren, zeitlosen Moment, nicht mehr als den millionsten Teil einer Sekunde vielleicht, waren wir eins. Es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich las nicht seine Gedanken oder übermittelte ihm Wissen - ich war Tornhill. Sein Leben, der ganze, ungeheure Schatz an Erfahrungen und Informationen, die in den millionenfach verschlungenen Windungen seines Gehirns gespeichert waren, war plötzlich in mir.

Ich erinnerte mich, erinnerte mich an jede Sekunde seines Lebens, jeden Triumph, jede Niederlage, jedes Gespräch, jede Schmach und jede Peinlichkeit, jede einzelne Erfahrung, die er irgendwann einmal gemacht hatte, durchlebte fünf Jahrzehnte in Millisekunden und wußte.

Und er war ich. Der entsetzte Ausdruck in seinen Augen sagte es mir, daß er umgekehrt das gleiche erlebte wie ich, daß er Robert Craven war, der Sohn des Hexers, meine Jugend, mein Leben als Tagdieb in den Slums von New York miterlebte, den Schrecken spürte, als mir meine wahre Identität enthüllt wurde, das ungläubige Entsetzen, als ich begriff, daß es hinter unserer Welt noch eine zweite, schrecklichere gab, meine Furcht, das erdrückende Gefühl der Hilflosigkeit ...

Unsere Hände lösten sich mit einem Ruck. Ich taumelte, sank auf die Pritsche zurück und verbarg das Gesicht in den Händen, während Tornhill wie versteinert stehenblieb und mich aus entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.

Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Seine Lippen bebten, und plötzlich begannen seine Hände zu zucken, als hätte er die Kontrolle über seine Glieder verloren. »Was ...«, krächzte er. »Mein Gott, Craven, was ... was haben Sie ... getan?«

»Das wollte ich nicht«, murmelte ich. Auch meine Stimme zitterte, und ich spürte, wie ich mehr und mehr die Beherrschung zu verlieren begann. Das Entsetzen lähmte mich. Ich war über seine Seele hergefallen, hatte an den ureigensten Geheimnissen dieses Mannes gerüttelt und an den Tag gezerrt, was nur ihm gehörte und was kein anderer Mensch auf der Welt zu wissen berechtigt war. Ich hatte ihn gezwungen, mein eigenes Leben zu teilen, hatte seine Seele vergewaltigt, vielleicht die Grundlage all dessen, woran er glaubte, zerstört. Ich hatte das Leben eines Menschen seziert, nur weil ich es wollte, kraft eines einzigen, unbedachten Gedankens. Plötzlich wurde mir klar, welch ungeheure Macht mir Roderick Andara hinterlassen hatte!

»Das wollte ich nicht, Tornhill«, keuchte ich. »Bitte, glauben Sie mir! Ich ... ich wußte nicht, was ich tat. Verzeihen Sie mir - bitte!«

Tornhill machte einen schwerfälligen Schritt auf mich zu, hob die Hand und berührte mich beinahe sanft an der Schulter.

»Es ist in Ordnung, Robert«, sagte er. »Ich weiß, daß du ... daß du das nicht geahnt hast.« Er atmete hörbar ein, fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und setzte sich neben mich auf die Pritsche.

Ich glaubte zu ahnen, was in ihm vorging, und wenn es nur halb so schrecklich war wie das, was ich in diesem Moment durchmachte, dann ging er durch die Hölle.

»Verzeihen Sie mir«, murmelte ich noch einmal. »Ich wollte das nicht. Ich wollte nur, daß ... daß Sie mir glauben.«

Tornhill lachte, aber es klang wie ein Schrei in meinen Ohren. Plötzlich packte er mich, riß mich mit brutaler Kraft an den Schultern herum und schüttelte mich wild. »Ist das alles wahr?« brüllte er. »Sagen Sie die Wahrheit, Craven! Wenn es ein Trick war, um -«

Behutsam löste ich seine Hände von meinen Schultern, rutschte ein Stück zurück und schüttelte den Kopf. »Es war kein Trick, Tornhill!« sagte ich.

Er wußte, daß ich die Wahrheit sprach. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt. Sein plötzlicher Ausbruch war nur ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.

Tornhill stöhnte, ließ sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand sinken und begann krampfhaft zu schlucken. »Das ... das ist schrecklich«, keuchte er.

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte ich. »Und ich fürchte, es wird noch viel mehr Schreckliches geschehen, wenn wir nicht zu Rowlf gehen und versuchen, herauszubekommen, was er uns sagen wollte.«

Tornhill nickte, sah mich aber nicht an.

Auch nicht, als wir wenig später das Gebäude von Scotland Yard verließen und in einer vierspännigen Kutsche nach Norden fuhren, auf das Regency-Hospital zu.

Das Hospitalgebäude war selbst während der Nacht von Licht und Leben erfüllt.

Rowlfs Zimmer lag ganz am Ende eines der zahllosen Korridore, die das Hospital wie die Gänge eines steinernen Ameisenbaues durchzogen. Vor der Tür hielt ein Polizist in der schwarzen Uniform der Londoner Bobbys Wache, der sich bei Tornhills Auftauchen straffte und einen diensteifrigen Ausdruck auf seine verschlafenen Züge zu zaubern versuchte. Tornhill scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus dem Weg, öffnete die Tür und wedelte unwillig mit den Armen, als uns der Arzt, der uns zu Rowlfs Zimmer geleitet hatte, folgen wollte.

»Wir müssen allein mit ihm sprechen«, sagte er.

Der Arzt zögerte sichtlich.

»Der Mann ist schwerkrank!« sagte er. »Ich weiß nicht, ob es -«

»Aber ich«, unterbrach ihn Tornhill ärgerlich. »Wir machen es kurz, Doktor, das verspreche ich - aber wir müssen mit ihm reden, und zwar allein.«

Einen Moment lang leistete der Arzt noch Widerstand; aber nur mit Blicken, nicht mehr mit Worten. Dann fuhr er auf dem Absatz herum und stapfte beleidigt davon.

Tornhill grinste geringschätzig, trat noch einmal auf dem Gang hinaus und überzeugte sich davon, daß niemand in der Nähe war, der uns belauschen konnte, ehe er die Tür schloß.

Rowlf lag allein in dem Zimmer; zwei weitere Betten standen leer. Er schlief; zumindest waren seine Augen geschlossen, und er regte sich nicht, auch nicht, als sich Tornhill über ihn beugte und seine Hand berührte.

»Lassen Sie mich versuchen«, sagte ich leise. Tornhill blickte mich einen Moment zweifelnd an, dann nickte er und trat beiseite, um mir Platz zu machen.

Ich erschrak zutiefst, als ich Rowlfs Gesicht sah. Er war gewaschen und ärztlich versorgt worden, aber er bot jetzt einen beinahe noch schrecklicheren Anblick als am Morgen, als er mit letzter Kraft aus dem Sumpf gekrochen war. Seine Stirn glänzte fiebrig, und seine Wangen waren eingefallen und mit grauen Schatten belegt. Seine Lippen waren gesprungen, und ein rascher Blick auf seine Hände zeigte mir, daß seine Fingernägel abgebrochen und gesplittert waren, als hätte er versucht, sich mit bloßen Händen durch die Erde zu wühlen. Sein Körper zitterte unter der Bettdecke, als hätte er Schüttelfrost.

Vorsichtig beugte ich mich vor, legte die Hand auf seine Stirn und flüsterte seinen Namen. Rowlf stöhnte leise, bewegte den Kopf hin und her und öffnete für einen ganz kurzen Moment die Augen. Sein Blick war leer. Alles, was ich darin las, war ein tiefer, unglaublich tiefer Schrecken.