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Der Inspektor erreichte nicht einmal die Hälfte der Treppe. Über mir wuchs plötzlich die hünenhafte Gestalt eines Drachenkriegers in die Höhe.

Ein gellender Schrei erklang. Metall blitzte auf, und etwas Kleines, Flaches sirrte wie ein Diskus an mir vorüber, so dicht, daß ich den scharfen Luftzug spüren konnte. Tornhill schrie auf und versuchte dem Wurfgeschoß auszuweichen, aber der kleine, sechszackige Stern aus Stahl folgte seiner Bewegung. Tornhill keuchte, prallte seitlich gegen die Wand und blieb eine halbe Sekunde mit ungläubig aufgerissenen Augen stehen. Blut tropfte auf die steinernen Stufen.

Die drei Polizisten begannen zu schießen. Verzweifelt warf ich mich nach vorn und prallte hart auf den Marmor der Treppe. Rechts und links von mir klatschten Kugeln gegen die Wand und die Stufen. Aber der Drachenkrieger war schon längst nicht mehr da.

Ich wälzte mich herum und begann zu schreien, so laut ich konnte. »Lauft!« brüllte ich. »Lauft weg! Sie bringen euch um!«

Einer der beiden Männer auf der Treppe beherzigte meinen Rat, während die beiden anderen, halb wahnsinnig vor Angst und Entsetzen, ungezielt weiter auf den Balkon und das obere Ende der Treppe feuerten.

Das Ende kam schnell. Längs der Halle wurden plötzlich drei, vier Türen aufgerissen, und auch über mir erschienen zwei oder drei der schwarzen Schatten.

Keiner der drei Scotland-Yard-Beamten erreichte auch nur den Ausgang.

Auf dem Gang brannte kein Licht. Nur durch die Tür der Bibliothek, deren rechter Flügel halb offenstand, fiel ein schmaler Streifen trübgelber Helligkeit.

Die Gestalten der beiden Drachenkrieger, die mich wie zwei stumme Schatten flankierten, wirkten in der Dunkelheit drohender und gefährlicher denn je.

Aber ich hatte keine Angst. Jetzt nicht mehr. Das Entsetzen, das mich gepackt hatte, als ich hilflos zusehen mußte, wie Necrons Killer Tornhill und seine Männer töteten, war einer dumpfen, betäubenden Leere gewichen, als wäre meine Fähigkeit, Schrecken und Furcht zu empfinden, erschöpft. Selbst das Wissen, daß der Tod hinter jener Tür dort vorne auf mich wartete, schreckte mich nicht mehr. Im Gegenteil. Es kam mir fast wie eine Erlösung vor.

Trotzdem begann mein Herz zu rasen, als ich die Tür erreichte. Auf meiner Zunge breitete sich ein bitterer, metallischer Geschmack aus, verbunden mit einer immer stärker werdenden Übelkeit, die aus meinem Magen emporkroch.

Aber es war keine Furcht. Es war der Geschmack der Niederlage, den ich zum ersten Mal im Leben wirklich zu spüren begann.

Einer meiner Begleiter bedeutete mir mit einer befehlenden Geste, stehenzubleiben, stieß die Tür vollends auf und trat mit einer angedeuteten Verbeugung in die Bibliothek.

Ich hatte geahnt, was mich erwartete. Trotzdem krampfte sich etwas in mir zusammen, als ich das halb ausgebrannte Zimmer betrat und mich umsah.

Howard hockte in einem Sessel unter dem Fenster und blickte mir mit steinernem Gesicht entgegen. Sein linkes Auge war halb zugeschwollen, und auf seiner Wange war ein frischer, verkrusteter Schnitt. Die Art, in der er die Rechte in den Schoß gelegt hatte, sagte mir, daß sie verstaucht oder gebrochen sein mußte.

Neben ihm, in einem zweiten Sessel, saß der Mann, den ich für die Dauer eines Tages für Howard gehalten hatte. Die Ähnlichkeit war jetzt nicht mehr ganz so verblüffend, aber noch immer groß.

Sie waren sich in Statur und Wuchs gleich, und obwohl der falsche Bart des Howard-Doppelgängers mittlerweile entfernt war und die Farbe in seinem Haar zu verblassen begann, hätte man sie noch immer leicht für Brüder halten können. Was ihn von Howard unterschied, war die Furcht. Während Howard fast gelassen in seinem Sessel saß, war das Gesicht seines Doppelgängers verzerrt und glänzte vor Schweiß. Er mußte halb wahnsinnig vor Angst sein.

Ich trat vollends in das Zimmer, als einer der Drachenkrieger mir einen Stoß versetzte, und sah mich um. Meine Gedanken begannen zu rasen, als ich die schlanke, in ein weißes Nachthemd gekleidete Gestalt auf der kleinen Couch neben dem Kamin entdeckte.

Pri! Sie war hier!

Aber ich hatte mich gut genug in der Gewalt, stehenzubleiben und nicht zu versuchen, zu ihr zu kommen. Necrons Leute würden mich bei der geringsten verdächtigen Bewegung töten.

Die Tür hinter meinem Rücken schloß sich mit einem dumpfen Knall. Ich widerstand im letzten Moment der Versuchung, mich herumzudrehen.

Statt dessen blieb ich reglos stehen und blickte zu Priscylla hinüber, gierig auf jede Sekunde, die ich sie noch sehen konnte. Sie war ohne Bewußtsein, aber sie lebte, wie das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brust bewies, und sie schien unverletzt. Wenn ich starb, dann war es dieses Bild, was ich mit hinübernehmen wollte. Wo immer dieses ›hinüber‹ sein mochte.

Eine Gestalt in Schwarz trat an mir vorbei, kleiner als die Drachenkrieger und älter, aber auf schwer zu beschreibende Art gefährlicher und bedrohender als sie.

Necron ging mit raschen Schritten zu der Couch, auf der Priscylla lag, blickte einen Moment versonnen auf ihr regloses Antlitz herab und hob dann mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf, fast, als bemerke er meine Anwesenheit erst jetzt.

»Du hättest mich nicht hintergehen sollen, Craven«, sagte er. Seine Stimme war ganz kalt, ohne irgendeine Spur von Zorn oder Haß. Aber gerade das machte die Drohung darin um so schlimmer.

»Du hättest allein kommen sollen, wie ich es verlangt habe«, sagte er. »Jetzt bin ich nicht mehr an unsere Abmachung gebunden.«

»Ich konnte nichts dafür, Necron«, antwortete ich, obwohl ich wußte, wie sinnlos jedes Wort war. Wir hatten keine Abmachung; es hatte nie eine gegeben. Und wenn, hätte Necron sich ohnehin nicht an irgendwelche Zusagen gehalten. »Diese Männer sind mir ohne mein Wissen gefolgt.«

»Wie dumm von dir«, murmelte Necron. »Aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Du hast mein Eigentum zurückgebracht, wie ich sehe?«

Er streckte fordernd die Hand aus, aber ich zögerte noch, ihm das Paket mit dem NECRONOMICON auszuhändigen. »Warum haben Sie das getan?« fragte ich.

Necron blinzelte in gespielter Verwirrung. »Was?«

»Die Toten«, murmelte ich. »Sie haben sie umbringen lassen. All diese Menschen hätten nicht sterben müssen.«

»Sie haben mich angegriffen«, erinnerte Necron.

Ich fegte seine Antwort mit einer ärgerlichen Geste beiseite. »Wenn Sie auch nur halb so mächtig sind, wie man sich erzählt, Necron, dann hätten Sie andere Möglichkeiten gehabt, sich zu wehren. Aber Sie haben ihre schwarzen Killer ausgeschickt und sie umbringen lassen. Warum?«

»Warum?« Necron lachte meckernd. »Vielleicht, weil es mir Spaß macht«, sagte er. »Die Männer müssen im Training bleiben, weißt du, Craven? Und was kümmert es dich? Tornhill hätte dich eingesperrt, wenn das hier vorüber wäre. So oder so. Er war verrückt. Und gefährlich.«

»Aber er war ein Mensch!« begehrte ich auf. »Woher nehmen Sie sich das Recht, über das Leben anderer zu entscheiden, Sie Wahnsinniger!«

In Necrons Augen blitzte es auf. Aber zu meiner eigenen Überraschung blieb der erwartete Zornesausbruch aus. Er lächelte nur, trat auf mich zu und streckte abermals die Hand aus. »Das Buch!«

Diesmal gehorchte ich. Necron entriß mir das Paket, fetzte mit zitternden Fingern das Papier herunter und hielt das Buch mit beiden Händen in die Höhe. Seine Augen flammten.

»Das NECRONOMICON!« keuchte er. »Ich habe es wieder. Jetzt gibt es niemanden mehr, der sich mir noch entgegenstellen könnte. Niemanden!« Er lachte irr, preßte den riesigen Folianten wie einen Schatz an die Brust und blickte aus brennenden Augen von Howard zu mir und wieder zurück.

»Niemand!« wiederholte er. »Sie Narr haben ja nie gewußt, welchen Schatz Sie hatten! In diesem Buch steckt die Macht, das Universum zu erschüttern!«