Aber er starb noch immer nicht. Obwohl es absolut unmöglich war, stemmte er seinen geschundenen Körper noch einmal in die Höhe und starrte mich an.
»Dafür ... wirst ... du bezahlen ... Craven«, krächzte er. »Du wirst ... leiden bis an dein ... Lebensende. Du hast mich ... zweimal verraten, Robert Craven, und du wirst zweitausend Tode sterben für jeden ... Verrat.«
Er keuchte. Der Teppich unter ihm begann zu zucken wie unter Krämpfen. Er schrie, fiel nach hinten und wälzte sich auf dem Boden. Aber noch immer war Kraft in ihm, und noch einmal richtete er sich auf und starrte mich aus blinden Augen an. »Ich verfluche dich, Robert Craven!« schrie er. »Ich verfluche dich mit aller Macht, die mir gegeben wurde. Du wirst niemals Ruhe finden! Du wirst ein Leben als Gejagter führen, als Ruheloser. Alles, was du liebst, soll zerbrechen, und alles, was du tust, soll Übles zur Folge haben! Ich gebe dir das Unheil. Leid und Tod sollen deine Brüder werden, und die Menschen werden dich verfluchen, wohin du deine Schritte auch lenkst! Du wirst an meine Rache denken, Robert Craven!«
Wieder sackte er nach hinten. Aber er starb noch immer nicht, sondern begann schrille Worte in einer mir unverständlichen Sprache hervorzustoßen.
In die fünf überlebenden Drachenkrieger kam plötzlich Bewegung. Zwei von ihnen hoben den Körper ihres Meisters auf, während der dritte zu der Standuhr eilte und ihre Tür mit einem einzigen kraftvollen Schlag aus dem Rahmen riß.
Dahinter dräute die schwarze Sumpflandschaft, die ich in meinen Alpträumen - von denen ich jetzt wußte, daß es keine Träume gewesen waren - gesehen hatte.
Und der vierte eilte zu der kleinen Couch neben dem Kamin und hob Priscylla auf die Arme.
Mit einem gellenden Schrei sprang ich in die Höhe und stürzte mich auf ihn.
Ich sah den Schlag nicht einmal, so schnell kam er. Plötzlich hatten meine Beine nicht mehr die Kraft, meinen Körper zu tragen. Ich fiel, sah eine schattenhafte Bewegung aus den Augenwinkeln und krümmte mich in neuem, irrsinnigem Schmerz, als der Fuß des Drachenkriegers in meine Seite stieß.
Ich verlor nicht das Bewußtsein, sah und hörte alles, was um mich herum vorging, aber ich war unfähig, die Bilder und Geräusche zu verarbeiten oder gar darauf zu reagieren.
Die beiden Drachenkrieger trugen den Alten zu der Standuhr. Ich hörte, wie er noch etwas zu Howard sagte, verstand die Worte aber nicht, dann traten sie vollends durch die Tür und begannen zwischen den schwarzen Wogen des erstarrten Sumpfes hindurchzugehen.
Meine Gedanken umnebelten mich. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, und ich spürte nichts als Schmerzen und ein nie gekanntes Gefühl der Hilflosigkeit.
Als ich wieder sehen konnte, waren Necron und seine schwarzen Killer verschwunden.
Und mit ihnen Priscylla.
»Es war meine Schuld«, sagte Howard leise. »Es tut mir leid, Robert.« Seine Stimme bebte, und in seinen Augen stand ein Flehen, wie ich es noch nie zuvor bei einem Menschen erblickt hatte. »Bitte ... verzeih mir«, flüsterte er.
Er und van der Groot hatten mich aufgehoben und zu der Couch getragen, auf der Priscylla zuvor gelegen hatte. Ich war wieder vollkommen bei Sinnen, und mein Körper schmerzte nicht mehr so unerträglich, wenn ich auch bei jedem Atemzug einen brennenden Stich in der Brust verspürte. Der Drachenkrieger mußte mir eine Rippe gebrochen haben; vielleicht auch mehrere.
Aber von all dem bemerkte ich kaum etwas. Ich hörte auch Howards Worte nur mit einem Teil meines Bewußtseins, und es fiel mir schwer, überhaupt darauf zu reagieren und ihn anzusehen.
»Deine Schuld?«
Er nickte. Mit einem Male wirkte er sehr traurig. »Ja. Ich ... wußte, was geschehen würde, wenn er die Uhr öffnet. Und wollte es. Es war die einzige Chance, ihn zu vernichten. Dachte ich.«
Mein Blick wanderte zu der geöffneten Standuhr. Die schwarze Alptraumlandschaft war verschwunden und hatte wieder dem rissigen Holz der Rückwand Platz gemacht, nachdem Necron gegangen war. Für einen Moment versuchte ich mir einzureden, daß alles nicht mehr als nur ein Alptraum war, aus dem ich erwachen würde, wenn ich es nur fest genug wollte.
Aber ich würde nie erwachen, denn der Alptraum, in dem, ich mich befand, hieß Wirklichkeit.
»Es tut mir so leid«, murmelte Howard. »Als ... Necron uns gefangennahm, da ...«
»Es ist gut, Howard«, sagte ich leise. »Du kannst nichts dafür.«
Er sah mich an, und in seinen Augen glomm ein schwacher Funke von Hoffnung auf. »Du ... haßt mich nicht?« fragte er.
»Hassen?« Meine Stimme klang ganz kalt. Ich erschrak fast selbst über ihren Klang. »Warum sollte ich dich hassen?«
»Er hat Priscylla entführt«, sagte Howard vorsichtig. »Er hätte es nicht getan, wenn ich nicht versucht hätte, ihm eine Falle zu stellen.«
Ich antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Howard begriff auch so, was in diesem Moment in mir vorging.
»Weißt du, wo seine ... Bergfestung ist?« fragte ich leise.
»Necrons Drachenburg?«
Ich nickte.
Howard überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Niemand weiß genau, wo sie ist. Du willst ihn ... suchen?« Sein Blick flackerte.
»O ja«, antwortete ich. »Ich werde ihn suchen, Howard. Ich werde ihn finden, und wenn ich bis ans Ende der Welt reisen müßte. Und dann werde ich ihn töten.«
Gerade war die Stelle am Ufer des kleinen Sees noch leer gewesen. Jetzt standen plötzlich drei Männer dort. Niemand, der zu dieser späten Stunde noch in den Regents Park gegangen wäre, hätte sie kommen sehen, denn sie waren buchstäblich aus dem Nichts herausgetreten.
Nur eine streunende Katze war Zeuge ihrer Ankunft. Und sie allein spürte die schreckliche, abgrundtief böse Aura, die die drei Männer umgab.
Ihr rostrotes Fell sträubte sich, bevor sie mit hastigen Sprüngen und in wilder Panik davonstob.
Für einen winzigen Moment hatte sie den Tod gespürt ...
Sekundenlang standen die drei hochgewachsenen Gestalten reglos am Ufer des Sees, lauschten auf das Rascheln der Blätter und das leise Murmeln des Wassers, dessen Oberfläche der Wind kräuselte.
Dann verschwanden sie, in verschiedene Richtungen und beinahe so lautlos, wie sie aufgetaucht waren. Nur ihre Fußspuren blieben im feuchten Sand des schmalen Seeufers zurück.
Aber selbst die würden bis zum Morgengrauen verschwunden sein ...
»Warum können wir das Tor nicht benutzen? Ich sehe keinen Grund, der mich daran hindern sollte, das gleiche zu tun wie Necron!«
Howard zog mißbilligend die Brauen zusammen, als er den vorwurfsvollen Unterton in meinen Worten gewahrte, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, griff umständlich nach seiner Tasse mit längst kalt gewordenem Kaffee und tat so, als tränke er. Seine übertrieben zur Schau gestellte Ruhe machte mich allmählich rasend. Wir saßen seit mehr als zwei Stunden in der Bibliothek beisammen und redeten; das heißt - ich redete, und Howard hörte zu, runzelte dann und wann die Brauen oder schüttelte den Kopf und beschränkte seinen Beitrag an unserer »Aussprache« ansonsten auf ein gelegentliches »hm« oder »tztztz!«
Nicht, daß ich etwas anderes erwartet hatte. Wenn ich jemals einem Menschen begegnet war, der eine wahre Meisterschaft darin entwickelt hatte, auf konkrete Fragen keine Antworten zu geben, dann war es Howard.
»Also? Warum nicht?«
Howard lächelte, hob die Zigarre an die Lippen und blies eine übelriechende Qualmwolke in meine Richtung. »Weil es nicht geht«, sagte er schließlich.
»Weil es ... nicht geht?« wiederholte ich. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wenn es so ist, sehe ich natürlich ein, daß du recht hast.«
»Du brauchst überhaupt nicht zynisch zu werden, Robert«, sagte Howard kopfschüttelnd. »Reicht dir nicht, was du mit diesem Ding erlebt hast?«