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Er mußte ihm aus der Tasche gefallen sein, als er die Jacke ausgezogen und über den Stuhl gehängt hatte. Ich schüttelte den Kopf, öffnete sein Jackett und schob den Ausweis wieder in die Innentasche des schwarzen Rockes.

Der Paß fiel durch die Tasche, die innen ausgerissen sein mußte, glitt mit einem seidigen Schleifen bis an den unteren Saum der Jacke und fiel durch einen Riß am Futter erneut auf den Teppich.

Jedenfalls sah es so aus. Das einzige, was diesen Eindruck störte, war die Tatsache, daß ich den Paß noch gar nicht losgelassen hatte, sondern noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt ...

Verwirrt zog ich die Hand wieder hervor, starrte einen Moment unschlüssig auf das zerknickte blaue Passepartout in meinen Fingern, dann auf das auf dem Teppich, hob es schließlich auf und drehte die beiden Pässe in den Händen.

Es dauerte einen Moment, bis mir bewußt klar wurde, was meinem Unterbewußtsein schon im ersten Moment aufgefallen sein mußte und worauf es mit einem lautlosen Alarmschrei in meinen Gedanken reagiert hatte. Etwas stimmte nicht mit diesen beiden Pässen.

Und dann erkannte ich auch, was.

Sie waren gleich.

Sie ähnelten sich nicht bloß, wie es Pässe der gleichen Nationalität nun einmal tun, nein - sie waren gleich!

Vollkommen identisch.

Verblüfft starrte ich zehn, fünfzehn Sekunden lang auf die beiden blaugoldenen Dokumente in meinen Händen, dann trug ich sie zum Tisch, setzte mich und legte sie nebeneinander auf die Platte.

Alles an diesen beiden Pässen stimmte überein - der zerfranste, an einen fünfarmigen Zwerg erinnernde Tintenklecks auf dem Einband, die abgeblätterten Stellen in seinem Golddruck, das Eselsohr in der rechten oberen Ecke; alles. Sie ähnelten sich wie zwei vollkommen identische Abgüsse aus ein und derselben Form.

Wieder zögerte ich endlose Sekunden. Mein schlechtes Gewissen begann sich zu regen, als mir klar wurde, daß ich hier in Howards persönlichen Dingen herumschnüffelte, die mich absolut nichts angingen. Aber meine Neugier war stärker. Langsam klappte ich die Pässe in einer synchronen Bewegung auf, wie um ihre Gleichförmigkeit noch zu unterstreichen, und blickte mit immer stärker werdender Verwirrung auf die erste Seite.

Die sonderbare Übereinstimmung setzte sich im Inneren der Pässe fort. Der amerikanische Weißkopfadler, der auf dem von Linien und Symbolen durchzogenen Spezialpapier prangte, hatte einen Schmutzfleck auf der rechten Schwinge - in beiden Pässen! -, hier war ein winziger, halb ausradierter Bleistiftstrich, dort eine Linie, an der das Papier geknickt und gebrochen war. Verwirrt blätterte ich weiter, sah die verschiedenen Stempel und Eintragungen durch und stellte auch hier fest, daß sie identisch waren, sowohl in Lage und Reihenfolge als in Daten, Farbstärke und Anordnung.

Dann schlug ich die Seite mit Howards persönlichen Daten auf. Meine Hände zögerten unmerklich, als wollten sie mich ein letztes Mal daran erinnern, daß ich etwas tat, wozu ich kein Recht hatte. Ich wußte seit langem, daß es ein Geheimnis um Howards Identität gab, aber er hatte auf meine diesbezüglichen Fragen niemals geantwortet, und ich hatte einfach kein Recht, hinter seinem Rücken in seinen Papieren zu lesen.

Trotzdem tat ich es. Und diesmal fand ich einen Unterschied in den beiden Zwillingsbrüdern aus blauem Papier.

Es war nur eine Winzigkeit; zwei kleine, harmlos aussehende Zahlen in der Spitze, in der Howards Geburtsdatum stand. Und trotzdem erschütterten sie mich bis ins Innerste.

In dem einen, linken Paß war Howards Geburtsdatum mit dem 20. August 1840 angegeben. Der 20. August stand auch in dem zweiten Papier - nur die Jahreszahl stimmte nicht.

Sie lautete 1890.

Meine Hände begannen zu zittern. Ein eisiger Hauch schien mich zu streifen. Mir war mit einem Male heiß und kalt zugleich, und in meinem Magen saß plötzlich ein eisiger, harter Klumpen. Beinahe gegen meinen Willen hob ich den Kopf und starrte auf den kleinen Dauerkalender, der auf einer Ecke meines Schreibtisches stand.

Er zeigte das heutige Datum an. Den 11. Juni 1885!

Der Mann mochte Mitte Dreißig sein, und was dem Portier als erstes an ihm auffiel, war seine ungewöhnlich dunkle Gesichtsfarbe. Er war kein Neger, aber die Sonne hatte seine Haut so sehr gebräunt, daß der Unterschied nur noch in Nuancen feststellbar war. Er war sehr groß - sicherlich an die zwei Meter -, aber er bewegte sich nicht mit der Schwerfälligkeit, die Menschen seines Wuchses meistens auszeichnet, sondern ungemein geschmeidig.

Er hatte - ganz anders, als die meisten Gäste, die zum ersten Mal hierher kamen - nicht gezögert, nachdem er durch die Tür getreten war. Er hatte sich nur kurz und aufmerksam aus seinen tiefblauen, ein wenig schrägstehenden Augen umgesehen und war dann weitergegangen, zielstrebig direkt auf die Rezeption zu.

Der Portier stand auf, schnippte hastig die Krümel des Käsesandwiches, mit dem er sich die letzte halbe Stunde vertrieben hatte, von seiner Hose und sah dem Mann mit einem berufsmäßigen Lächeln entgegen; nicht, ohne vorher einen raschen, mißbilligenden Blick auf die Zeiger der mächtigen Messinguhr zu werfen, die hinter ihm an der Wand hing. Es war annähernd drei Uhr. Eine recht ungewöhnliche Zeit, sich ein Zimmer zu suchen.

»Sir?« begann er fragend.

Der Fremde sah ihn einen Moment wortlos an, und irgend etwas war in seinem Blick, was den Portier schaudern ließ. Seine Augen schienen eine beinahe körperlich spürbare Kälte auszustrahlen. Es war, als würde er von einem eisigen Hauch getroffen.

»Ein Zimmer«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang sonderbar; rauh und tief und so kehlig, als befleißige er sich normalerweise einer Sprache, deren Klangfarbe mit dem Englischen nichts gemein hatte.

»Für ... wie lange, Sir?« fragte der Portier.

Der Fremde zuckte mit den Achseln. »Zwei, vielleicht drei Tage«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Vielleicht auch mehr. Ich weiß es noch nicht.«

Das Stirnrunzeln des Portiers vertiefte sich. Er räusperte sich, beugte sich demonstrativ über die niedrige Theke und blickte nach rechts und links. »Sie haben ... kein Gepäck, Sir?« fragte er. Seine Stimme klang spröde.

»Kein Gepäck«, bestätigte der Fremde.

»In diesem Fall, Sir«, sagte der Portier nach einem neuerlichen, etwas längeren Zögern, »muß ich leider auf einer Vorauszahlung bestehen. Eine Regel unseres Hauses.«

Seltsamerweise zeigte der Fremde keinerlei Spur von Zorn oder auch nur Verärgerung. Schweigend griff er in die Tasche, zog eine zusammengefaltete Fünfzig-Pfund-Note hervor und legte sie auf die Theke. »Reicht das?«

Der Portier widerstand im letzten Moment der Versuchung, die Hand auszustrecken und die Banknote an sich zu reißen. »Das ist ... mehr als genug«, sagt er stockend. »Aber ich fürchte, ich werde Ihnen nichts herausgeben können. Die Kasse ist abgeschlossen. Wenn Sie sich bis morgen früh gedulden könnten, Sir ...«

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete der Fremde, und seine Worte überzeugten den Portier endgültig davon, daß er entweder total verrückt oder auf der Flucht vor der Polizei war. »Sie können den Rest behalten.« Er lächelte, nahm schweigend den Schlüssel entgegen, den ihm der Portier reichte, und wandte sich um, aber der Mann hinter der Theke rief ihn noch einmal zurück.

»Sie ... müssen sich noch eintragen, Sir«, sagte er. »Der Meldezettel wäre noch ...«

Er verstummte, als ihn der Blick der stahlblauen Augen traf. Etwas hatte sich darin geändert, etwas, das nicht mit Worten zu beschreiben war.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang plötzlich ganz anders als bisher.

Der Portier wollte widersprechen, aber er konnte es nicht. Statt dessen nickte er, klappte das Meldebuch wieder zu und legte den Füllfederhalter aus der Hand. »Es wird nicht nötig sein«, bestätigte er.