Niemand hatte den Fremden gesehen auf dem Weg hierher. Lautlos war er von Ruine zu Ruine gehuscht, auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht wirklich wußte, was es war, das er aber erkennen würde, sobald er es fand.
Schließlich hatte er das Haus betreten. Nachdem er Zimmer für Zimmer durchsucht hatte, war er hier hinauf gelangt, in den zerfallenen Dachstuhl.
Dort hatte er die Motten entdeckt.
Lange, Stunde um Stunde, war er so stehengeblieben, eine Statue, die zur Reglosigkeit erstarrt war, bis er selbst zu einem Teil dieser staubigen, verfallenen Umgebung geworden zu sein schien.
Und doch tat er etwas.
Etwas ging mit diesen kleinen, harmlosen Tieren vor sich. Sie spürten es nicht, und ihren primitiven Nervensystemen war die Veränderung nicht einmal bewußt. Sie hatten nichts, was man mit einem Gehirn vergleichen konnte oder was gar in der Lage gewesen wäre, zu denken.
Aber als die Veränderung abgeschlossen war, waren sie keine harmlosen kleinen Schädlinge mehr.
Sie waren zu Killern geworden.
Der Fremde ging, ehe die Sonne den Horizont erreicht hatte, und wieder nahmen die Motten keine Notiz von ihm, denn er gehörte zu einer Welt, die für die primitiven Sinne der kleinen Insekten auf ewig bizarr und fremd und unverständlich bleiben mußte. Er würde wiederkommen, an diesem Abend und auch an den nächsten, aber auch das würden sie nicht bemerken.
Für die Motten hatte sich nichts geändert. Die Welt war, wie sie immer gewesen war: groß, unverständlich und voller Gefahren und Beute.
Und doch waren sie zu etwas ganz anderem geworden ...
Als sich das nächste Mal die Dämmerung über die Stadt senkte und eine Heerschar winziger häßlicher Motten aus dem Haus aufstieg, um in der näheren Umgebung nach Nahrung und Beute zu suchen, teilte sich ein winziger Teil der Tiere vom Hauptschwarm ab und flog lautlos nach Westen.
Mit ihnen flog der Tod.
Mit der Dämmerung hatte sich auch über das Haus Stille und Dunkelheit gesenkt, eine Dunkelheit, die bedrückend wirkte, und eine Stille, die mich an das Schweigen eines steinernen Mausoleums erinnerte.
Ich machte mir schwere Vorwürfe. Howard hatte die Bibliothek verlassen und war in sein Zimmer gegangen, und ich hatte ihn bisher nicht wieder gesehen; auch nicht zum Essen.
Charles, mein neuer Majordomus und - solange ich noch nicht genug Personal eingestellt hatte - in gleicher Person auch Kutscher, Butler und Küchenhilfe, hatte mehrmals an seine Tür geklopft und ihn zum Essen gerufen, aber er war nicht gekommen.
Jetzt stand ich vor der Tür des kleinen Gästetraktes, den Rowlf und er bewohnten; aber ich stand schon eine ganze Weile dort, fünf, vielleicht sogar zehn Minuten, ohne daß ich bisher den Mut gefunden hätte, anzuklopfen.
Nachdem Howard gegangen war, war mir ganz allmählich klar geworden, wie schwer ihn meine Worte gekränkt haben mußten.
Wenn Howard nicht mein Freund war, dann war das Wort Freundschaft bedeutungslos. Er hatte ein halbes Dutzend Mal sein Leben riskiert, um das meine zu retten. Hätte er sich nicht um mich gekümmert - einen Fremden, mit dem ihn nichts weiter verband, als die Tatsache, daß dieser zufällig der uneheliche Sohn seines verstorbenen Freundes war -, dann könnte er vermutlich heute noch sicher in seiner kleinen Pension im Norden Londons sitzen und Gott einen guten Mann sein lassen.
Aber er hatte es nicht getan, sondern mich mit offenen Armen empfangen und mich wie einen Sohn aufgenommen. Er hatte seine gesicherte Existenz und sein Leben als zurückgezogener Sonderling, den man vielleicht belächelte, dem aber niemand etwas Böses wollte, für das Leben eines Gejagten eingetauscht.
Und ich dankte es ihm, indem ich ihm mißtraute! Ich Idiot.
Mit einer entschlossenen Bewegung hob ich die Hand und klopfte an. Ich bekam keine Antwort, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Ich klopfte noch einmal, wartete noch ein paar Sekunden und legte die Hand auf die Klinke.
Sie bewegte sich knirschend nach unten und brach ab.
Verblüfft starrte ich auf das verzinkte Stück Metall in meiner Hand. Seine Oberfläche war fleckig und zerschrunden, und aus dem abgebrochenen Bolzen rieselte feiner brauner Rost wie trockenes Blut.
Die Türklinke sah aus, als hätte sie ein Jahrhundert in feuchter Erde gelegen.
Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, als die Tür unsanft aufgerissen wurde und Howard zu mir heraussah. In der dämmerigen Beleuchtung, die hier draußen auf dem Gang herrschte, vermochte ich den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht richtig zu erkennen, aber seine Stimme hatte einen eisigen, reservierten Klang.
»Warum kommst du nicht herein, statt die Tür zu demolieren?« fragte er.
Ich lächelte nervös, trat an ihm vorbei in sein Zimmer und drehte die abgebrochene Türklinke in der Hand.
Howard zog die Tür hinter sich zu, drückte sie aber vorsichtshalber nicht ins Schloß. Auch auf dieser Seite der Tür war die Klinke heruntergefallen; wir hätten Schwierigkeiten; bekommen, den Raum wieder zu verlassen, wenn das Schloß einschnappte.
»Warum zertrümmerst du die Einrichtung?« fragte Howard. »Gefällt dir dein Haus plötzlich nicht mehr?« Sein Gesicht blieb bei diesen Worten ausdruckslos; ihr scherzhafter Klang täuschte.
»Ich ... verstehe das nicht«, murmelte ich. »Ich habe die Klinke ganz normal berührt. Nicht einmal besonders fest.«
»Es ist ein altes Haus«, sagte Howard achselzuckend. »Vielleicht solltest du einen Handwerker kommen und die ganze Bude auf Vordermann bringen lassen. Was willst du?«
Ich sah ihn an, legte die zerbrochene Türklinke auf den Kaminsims und senkte den Blick. »Mich entschuldigen«, sagte ich. »Was ich gesagt habe, war wohl ziemlich dumm. Es tut mir leid.«
Howard nickte. »Ich glaube dir, Robert. Nimm es nicht zu schwer - ich habe auch nicht gerade intelligent reagiert.« Plötzlich lächelte er, und diesmal sah es ehrlich aus. »Im Grunde ist es meine Schuld. Es war ziemlich dumm von mir, diesen Paß mit mir herumzuschleppen. Ich sollte dir dankbar sein, statt dich anzugreifen. Das Dokument hätte auch einem anderen in die Hände fallen können.«
Ich seufzte erleichtert, wandte mich zu ihm und und wollte antworten.
Aber ich tat es nicht. Mein Blick streifte Howards Bett, und die Worte, die ich mir mühsam zurechtgelegt hatte, blieben mir im Halse stecken.
Auf dem ungemachten Bett lag Howards Koffer. Der Deckel war aufgeklappt, und seine Kleider und persönlichen Gegenstände waren in einem wüsten Durcheinander ringsum auf dem Bett verstreut.
»Du ... packst?« fragte ich stockend.
»Wie du siehst.« Howard eilte an mir vorbei zum Bett, stopfte ein zu einem unordentlichen Bündel zusammengewuseltes Hemd in den Koffer und klappte den Deckel zu. »Ich reise morgen früh«, sagte er. »Mit dem ersten Zug nach Dover.«
»Aber du ...« Ich brach verwirrt ab, suchte einen Moment nach Worten. Der eisige Klumpen in meinem Magen war wieder da. Ich fühlte fast so etwas wie Verzweiflung.
»Bitte, Howard«, sagte ich leise. »Es tut mir leid. Ich ... wollte das nicht sagen. Ich wollte nicht -«
»Meine Abreise hat nichts mit dem zu tun, was vorhin geschehen ist«, unterbrach mich Howard. Seine Stimme war ganz kalt; so reserviert, als spräche er mit einem Fremden. Einem Fremden dazu, den er nicht besonders gut leiden konnte.
Er war höflich.
»Aber warum dann? Warum diese überstürzte Abreise?«
»Sie ist nicht überstürzt«, sagte Howard ruhig. »Du überschätzt deine Wichtigkeit, Robert. Ich wäre auch so gefahren.« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ein paar Tage später. Aber ich muß weg.«