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Sie nahm ihre Tasche auf, öffnete das Tor und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Das Haus und der Garten - eigentlich war es schon eher ein kleinerer Park - waren dunkel, nur hinter einem Fenster hoch oben im zweiten Stock brannte ein einsames Licht.

Gloria ging langsamer, als nötig gewesen wäre, aber sie sah sich dabei aufmerksam um. Das Haus wirkte sehr alt, wie Ron gesagt hatte, aber es war - genau wie der Garten - sehr gepflegt. Und es sah nach Geld aus. Nach sehr viel Geld. Es gefiel ihr.

Irgend etwas berührte ihr Gesicht.

Gloria blieb abrupt stehen, sah sich erschrocken nach beiden Seiten um und hob die Hand an die Wange, wo sie die Berührung gespürt hatte. Es war nicht viel mehr als ein flüchtiger Hauch gewesen, kaum spürbar. Vielleicht ein Insekt, das im Dunkeln die Orientierung verloren hatte und gegen sie geprallt war.

Das junge Mädchen runzelte die Stirn, packte seine Tasche fester und ging weiter.

Sekunden später spürte sie eine weitere Berührung, ein wenig fester als beim ersten Mal, und diesmal glaubte sie etwas zu sehen: einen kleinen, verschwommenen Schatten, der trunken vor ihrem Gesicht auf und ab torkelte und blitzschnell verschwand, als sie die Hand hob und danach schlug.

Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Für einen ganz kurzen Moment spürte sie nagende Furcht, aber sie vertrieb das Gefühl, schalt sich in Gedanken selbst eine dumme Ziege und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Es gab eine Menge Dinge, die man Gloria nachsagen konnte - aber Feigheit gehörte nicht dazu.

Irgendwo zwischen ihr und dem sorgsam gestutzten Rhododendronbusch rechts neben dem Weg bewegte sich etwas; ein Spiel unruhiger kleiner Schatten, die mit hektischen Bewegungen auf und ab hüpften.

Was war das? dachte sie. Mücken? Aber nein; Mücken schwärmten nach Dunkelwerden nicht mehr. Außerdem hätte sie sie hören müssen.

Ohne auf die warnende Stimme in ihrem Inneren zu achten, setzte sie die Reisetasche ab und näherte sich vorsichtig dem Busch. Die Schatten wurden deutlicher, schälten sich jetzt als kleine graue Umrisse aus der Dunkelheit und torkelten wie wild hin und her. Einer von ihnen huschte auf sie zu und wich hastig zur Seite, als sie die Hand hob und damit wedelte.

Dann erkannte Gloria, was sie vor sich hatte.

Motten. Nichts als einen Schwarm kleiner, unansehnlicher grauer Motten.

Sie lächelte, schüttelte den Kopf über ihre eigene Neugier und Dummheit und ging zurück zu der Stelle, an der sie die Tasche abgestellt hatte.

Als sie sich danach bückte, berührte etwas ihre Hand. Und diesmal tat die Berührung weh.

Gloria fuhr mit einem unterdrückten Schrei hoch, sah ein graues Etwas von ihrer Hand fortflattern und schlug blindlings danach. Sie traf. Das kleine Flügeltier wurde aus der Bahn geworfen, torkelte zu Boden.

Sie zertrat es.

Der Kies unter ihrem Schuh knirschte, als zermalme sie Knochen, als sie den Fuß über dem winzigen Insekt drehte.

Ihre Hand tat immer noch weh. Gloria hob die Finger vor die Augen und versuchte im schwachen Mondlicht die Stelle zu erkennen, an der sie die Motte gebissen hatte - denn etwas anderes konnte es nicht sein -, aber alles, was sie sah, war ein kleiner, grauer Fleck auf der Haut, wie Staub.

Angeekelt wischte sie sich die Hand an ihrem Rock sauber, nahm ihre Tasche auf und ging weiter.

Eine Motte flog auf sie zu, wich Millimeter vor ihrem Gesicht zur Seite und berührte sie ganz sanft mit den Flügelspitzen an der Stirn.

Gloria schrie erschrocken auf, schlug nach dem Tier und glitt auf dem Kies aus. Ihre Arme ruderten hilflos, sie verlor vollends das Gleichgewicht und stürzte. Ihre Tasche platzte auf, ihr Inhalt quoll hervor und fiel auf den Weg.

Und plötzlich waren überall Motten. Tausende der kleinen, grauen Tiere schienen mit einem Male die Luft um sie herum zu erfüllen, ein flatternder, torkelnder, lautloser Schwarm, der immer wieder auf sie herabstieß und ihr Gesicht und ihre Hände, die nackte Haut ihrer Beine und ihren Nacken berührte.

Gloria schrie vor Angst. In blinder Panik schlug sie um sich, zermalmte Dutzende der winzigen Tierchen mit den Händen und krümmte sich vor Furcht, als eine ganze Wolke der häßlichen grauen Schmetterlinge auf ihr Gesicht herabstieß.

Im ersten Moment war ihre Berührung sanft, beinahe zärtlich, wie ein Streicheln. Dann begann sie weh zu tun.

Schrecklich weh.

Über ihr im Haus flammten Lichter auf. Erregte Stimmen erklangen, dann wurde eine Tür aufgerissen, und hastige Schritte näherten sich.

Aber von alldem nahm Gloria kaum etwas wahr! Plötzlich, so rasch, wie die Schmerzen gekommen waren, verschwanden sie wieder. Sie war nur noch müde.

So unglaublich müde.

Die Bibliothek war nicht mehr leer. Jemand hatte das große Licht gelöscht und dafür die kleine Petroleumlampe auf dem Schreibtisch entzündet, und das Feuer im Kamin war zu höherer Glut entfacht worden. In dem hochlehnigen Ohrensessel davor saß eine breitschultrige, in einen seidenen Hausmantel gehüllte Gestalt.

»Rowlf!« sagte ich verblüfft. »Was ...« Ich brach ab, schob die Tür hinter mir ins Schloß und eilte auf ihn zu, blieb aber auf halbem Wege stehen. Auf seinem breitflächigen Gesicht stand ein Ausdruck, den ich mir nicht erklären konnte. Irgend etwas zwischen Trauer und Vorwurf.

»Du bist ... nicht unten?« fragte ich vorsichtig.

»Howard kommt mit dem Gepäck schon allein zurecht. Aber er glaubt auch, daß ich in meinem Zimmer bin und schlafe. Er weiß nicht, daß ich hier bin, und er muß es auch nicht wissen. Ich muß mit dir reden«, sagte Rowlf. Seine Stimme klang verändert. Sehr ernst. »Wenn du Zeit hast, heißt das.«

»Natürlich.« Ich wandte mich zu dem kleinen Teewagen neben der Tür, auf dem Gläser und Flaschen bereitstanden. »Einen Drink?« fragte ich. Rowlf nickte, und ich mixte für uns beide einen kräftigen Whisky. Meine Hände zitterten so stark, daß die Eiswürfel wie ein kleines Glockenspiel klirrten, als ich mit den Gläsern zu Rowlf ging.

Er nahm mir eines davon aus der Hand, nippte daran und sah zu, wie ich mich nervös in den Sessel sinken ließ und mein Glas mit einem einzigen Zug zur Hälfte leerte. Prompt verschluckte ich mich und hustete qualvoll.

Aber das spöttische Lachen, das ich von ihm erwartete, blieb aus. Und jetzt, im nachhinein, fiel mir auch noch etwas auf: Rowlf s Dialekt war verschwunden. Er hatte das reinste Oxford-Englisch gesprochen, das ich jemals gehört habe. Bisher hatte er seinen Slang, den er normalerweise sorgsam pflegte und zur Perfektion zu entwickeln versuchte, nur ein einziges Mal in meiner Gegenwart vergessen.

Damals war er in Lebensgefahr gewesen.

»Also?« fragte ich, nachdem ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Was gibt es?«

»Du hast mit Howard gesprochen?«

Ich nickte. Mein Gesicht verdüsterte sich. War er gekommen, um mir Vorwürfe zu machen?

»Er packt«, murmelte ich. »Aber das weißt du sicher schon.«

»Ja«, antwortete Rowlf. »Deshalb muß ich mit dir reden. Vielleicht hört er auf dich. Mich hat er gar nicht erst zu Wort kommen lassen.«

»Auf mich?« Ich schluckte im letzten Moment das schrille Lachen herunter, das in meiner Kehle emporstieg. »Rowlf, es ist meine Schuld, daß er packt.«

»Quatsch«, sagte Rowlf heftig. »Glaubst du wirklich, Howard würde wie ein beleidigter Oberschüler davonlaufen, nur weil ihr euch gestritten habt?« Er schüttelte heftig den Kopf, leerte sein Glas mit einem Zug und drehte es nervös in den Fingern. »Wir wären sowieso gefahren, früher oder später. Euer kleiner Streit hat nur den Ausschlag gegeben, jetzt schon aufzubrechen. Es hat mit diesem van der Groot zu tun.«

»Das hat Howard mir gesagt«, murmelte ich. »Aber mehr auch nicht. Was ... ist passiert?«

»Passiert?« Rowlfs Gesicht verdüsterte sich. Seine Hände spannten sich mit einer kurzen, kraftvollen Bewegung um das Glas. Es knackte, und in dem dickwandigen Whiskyglas entstand ein sichelförmiger Sprung. Rowlf zog eine Grimasse. »Was passiert ist?« fuhr er fort. »Dieser van der Groot ist passiert. Ich hätte ihm den Schädel einschlagen sollen, als noch Zeit dazu war. Ich Idiot hätte wissen müssen, was passiert.« Er schnaubte. »Eigentlich habe ich seit Jahren darauf gewartet.«