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Plötzlich fiel Shannon auf, wie viele der grauen Schattenlinien von der Gestalt des Fremden aus direkt ins Wasser liefen.

Aber die Erkenntnis kam zu spät.

Tief unter dem kleinen Boot erwachte ein mächtiger Schatten. Shannons warnender Schrei ging im Krachen splitternden Holzes unter, als das Boot von einer unsichtbaren Faust getroffen und in Stücke geschlagen wurde.

Schon den ganzen Tag über hatte Howard eine sonderbare Unruhe verspürt, eine Art von Sorge, das Empfinden einer nur vage fühlbaren Gefahr, die es ihm unmöglich machte, sich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren.

Selbst jetzt, während er Professor Lengley zuhörte (oder es wenigstens versuchte), wühlte und grub eine starke Unruhe in ihm. Die Worte des grauhaarigen kleinen Professors entglitten ihm immer wieder, und er ertappte sich ein paarmal dabei, zu nicken oder zu antworten, ohne überhaupt verstanden zu haben, was Lengley gesagt hatte.

Schließlich hielt Lengley in seiner Rede inne, schüttelte den Kopf und begann sich eine Pfeife zu stopfen. Umständlich nahm er sich Feuer, sog am Mundstück, bis der Tabak im Kopf der geschnitzten Bruyere-Pfeife wie ein kleiner roter Vulkan aufleuchtete, und blies eine dicke Rauchwolke durch die Nase aus.

»Sie sind unaufmerksam, mein Freund«, sagte er. »Ich frage mich, ob Sie etwas bedrückt?«

Howard sah mit einem fast schuldbewußten Lächeln auf und blickte einen Moment an Lengley vorbei aus dem Fenster. Es war fast Mittag. Von hier, aus der Wärme und Sicherheit von Lengleys kleinem Studierzimmer hoch unter dem Dach des Hauptgebäudes der Miscatonic-Universität betrachtet, wirkte das sanft gewellte Wald- und Hügelland täuschend friedlich.

Aber Howard glaubte die Bedrohung zu fühlen, die sich hinter der Fassade von Ruhe und Beschaulichkeit verbarg.

»Ich ... bin nur ein wenig ungeduldig«, antwortete er auf Lengleys Frage.

»Wegen Ihres jungen Freundes?« Lengley nahm die Pfeife aus dem Mund, lächelte und lehnte sich kopfschüttelnd zurück.

»Er wollte schon gestern abend hier sein«, antwortete Howard. »In dem Telegramm, das er mir geschickt hat, hat er extra darum gebeten, das Zimmer schon für die vergangene Nacht zu reservieren.«

»Er ist jung«, sagte Lengley, als wäre dies schon Antwort genug. »Und ein halber Tag Verspätung ist nicht viel für ein so großes Land wie unseres.«

Howard nickte. Natürlich hatte Lengley recht - es gab tausend Gründe, die für Roberts Verspätung verantwortlich sein konnten, und keiner davon war gefährlich.

Und trotzdem glaubte er zu spüren, daß da noch etwas anderes war ... Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Das Gefühl von Unsicherheit und Verwirrung wurde immer stärker. Er hatte einfach das Gefühl, etwas tun zu müssen.

Aber er wußte nicht, was.

»Warum verschieben wir unsere Unterhaltung nicht auf den Abend?« schlug Lengley plötzlich vor. »Sie könnten nach Arkham gehen und sich nach Ihrem Freund erkundigen. So wie die Dinge stehen, ist es vielleicht ohnehin besser, wenn er an unserem Gespräch teilnimmt.« Er lächelte, klopfte seine Pfeife aus und erhob sich.

Auch Howard stand auf und verließ das Zimmer.

Einen Moment überlegte er ernsthaft, ob er tatsächlich einen Wagen nehmen und nach Arkham fahren sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Robert würde sich melden, sobald er die Stadt erreicht hatte, daran zweifelte er nicht. Das Telegramm, das er ihm vor zweieinhalb Monaten nach London geschickt hatte, war dringend genug gewesen.

Howard begann ziellos durch die scheinbar endlosen, verwinkelten Gänge und Korridore des Universitätsgebäudes zu wandern. Jetzt, am Sonntag, war das Haus bis auf einige Unermüdliche verwaist und leer, und seine Schritte schienen lauter und hallender als normal von den Wänden widerzuhallen.

Selbst er, der diese Universität nun schon seit so vielen Jahren kannte und regelmäßig besuchte, hatte sich noch nicht vollends an den düsteren, irgendwie an Alter und Verfall erinnernden Hauch gewöhnt, der seinen Mauern innewohnte. Ganz egal, ob die Sonne schien oder Dunkelheit herrschte - den Gebäuden schien stets eine Atmosphäre von Gruft und Alter anzuhaften. Selbst die große, sonnenbeschienene Empfangshalle erinnerte an einen Friedhof.

Die Miscatonic-Universität war nicht groß, und es war eine besondere Art von Studenten, die an ihr lernten, so wie ihre Professoren und Dozenten einem ganz bestimmten Menschenschlag angehörten. Die meisten Fremden, die hierher kamen, begannen sich schon nach kurzem unwohl zu fühlen und gingen früher oder später wieder.

Aber vielleicht war das auch gut so. Denn nicht alles, was an der Universität gelehrt wurde, stand auf den offiziellen Lehrplänen der Regierung. Drei oder vier der Fächer hatten - gelinde ausgedrückt - ein ziemlich starkes Befremden bei den offiziellen Stellen ausgelöst.

Howards Schritte führten ihn - ohne daß er sich dessen selbst bewußt war - in einen kleinen, abseits gelegenen Flur im hinteren Teil des Gebäudes. Erst als er vor einer großen, geschlossenen Tür aus geschnitztem Holz stand, schrak er auf, sah sich verwirrt um und streckte schließlich die Hand nach der Klinke aus.

Der Raum hinter der Tür war erstaunlich groß und in graue Dämmerung gehüllt. Vor den Fenstern hingen schwere, samtene Vorhänge, die nur schmale Streifen flackernder Helligkeit hereinließen. Die Einrichtung - die zum großen Teil aus deckenhohen, bis zum Bersten gefüllten Bücherregalen und -schränken bestand - war nur als schwarzer Schatten zu erkennen.

Howard schob die Tür hinter sich ins Schloß, lehnte sich dagegen und sah sich unschlüssig um. Er war nicht sicher, ob es wirklich Zufall gewesen war, daß er seine Schritte hierher gelenkt hatte. Dieser Raum war so etwas wie das Allerheiligste der Universität. Die dicht an dicht stehenden Regale und Vitrinen beherbergten die wahrscheinlich größte Sammlung okkulter und zum Teil sogar verbotener Bücher, die es in diesem Teil der Welt gab.

Und der Stahlschrank, der sich hinter einem der Regale verbarg, barg noch andere Dinge; Dinge, an die er lieber nicht dachte.

Zögernd löste sich Howard von seinem Platz, ging ein paar Schritte in den Raum hinein und sah sich unschlüssig um. Nein, er glaubte jetzt wirklich nicht mehr, daß er durch eine Laune des Zufalls hierhergekommen war. Vielmehr hatte er plötzlich das Gefühl, von irgend etwas gerufen worden zu sein.

Plötzlich glaubte er eine Bewegung zu erkennen. Es war nichts Konkretes, sondern nur ein rasches Huschen und Wirbeln, als hätten sich die Schatten bewegt, aber es war auch zu deutlich spürbar gewesen, um eine Täuschung zu sein.

Howard ging zögernd in die Richtung, in der er die Bewegung gesehen hatte, und blieb abermals stehen. An diesem Teil der Wände befanden sich alte, in kostbare Goldrahmen gefaßte Bilder, die historische Persönlichkeiten, aber auch Honoratioren und Förderer der Universität zeigten.

Eines davon bildete einen vielleicht fünfzigjährigen, schlank gewachsenen Mann ab. Er war elegant gekleidet und trug einen schmalen Spazierstock in den Händen, dessen großer Knauf aus einer Art Kristall zu bestehen schien. Sein Gesicht war schmal, fast asketisch, und um den Mund, der von einem scharf ausrasierten Kinnbart eingefaßt war, lag ein entschlossener, beinahe verbitterter Zug. Seine Augenbrauen waren schmal und eckig, was ihm einen Hauch von Düsternis verlieh, und über seinem rechten Auge war eine breite Strähne seines Haares schlohweiß geworden, eine Strähne in der Form eines gezackten Blitzes, die bis über den Scheitel hinaufreichte.

Roderick Andara ... dachte Howard. Wie oft hatte er schon hier gestanden und das Bild seines Freundes angeblickt in den elf Monaten, die er nun in der Universität weilte? Wie oft hatte er mit dem Bild geredet, ihm seine Sorgen und Nöte anvertraut, so, wie er es früher bei Roderick gekonnt hatte? Jetzt war Andara tot, schon seit über zwei Jahren, und alles, was Howard von dem einzigen Freund geblieben war, war dieses Bild. Dieses Bild - und ein Junge von fünfundzwanzig Jahren, der die Macht seines Vaters geerbt hatte: Robert Craven. Die Nachricht von Rodericks Tod hatte Howard erschüttert wie der Verlust eines Bruders. Der, der ihm diese Nachricht gebracht hatte, war Andaras Sohn gewesen, der Erbe seiner magischen Macht ... Und etwas von dem, was Howard mit Roderick verloren hatte, war in seinem Sohn zu ihm zurückgekehrt. Der Meister war tot, aber der Hexer lebte weiter. Es würde lange dauern, bis Robert Craven sein Erbe so weit entwickelt hatte, daß er an die Fähigkeiten seines Vaters heranreichte, aber Howard spürte, daß er es schaffen würde. Er war jung und ungeduldig und verstand vieles nicht, aber er würde lernen. Und er, Howard, würde ihm dabei helfen, so gut er nur konnte.