»Aber Sie müssen es tun«, antwortete Howard. »Ich weiß nicht, wie lange diese Biester sich noch still verhalten.«
»Gut, Sir«, antwortete Charles. Seine Stimme bebte. »Ich nehme jetzt das Streichholz.«
»Alle anderen weg von der Treppe«, befahl Howard. »Nehmt euch irgend etwas, womit ihr zuschlagen könnt - einen Schuh; reißt von mir aus Streifen aus euren Kleidern. Ihr dürft sie auf keinen Fall mit bloßen Händen berühren!«
Die Zeit schien stehenzubleiben. Ich hörte raschelnde, schleifende Geräusche, ein kaum hörbares Klappern, als Charles die Streichholzschachtel öffnete ...
Dann glomm ein winziger Funke auf, wuchs zu einer Flamme empor und erwachte zu greller Weißglut, als der petroleumgetränkte Docht der Lampe mit einem hörbaren Knistern Feuer fing. Auf den unteren Stufen die Treppe entstand eine kleine, flackernde Insel aus gelbem Licht, und ein halbes Dutzend winziger grauer Schatten stieß aus der Dunkelheit herab.
Charles schrie in Panik auf und brachte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit, während die Flamme hinter ihm höher und höher wurde. Plötzlich blitzte es auf; winzige, knisternde Funken barsten im Herzen der Flamme auseinander.
»Es funktioniert!« keuchte ich. »Sie ... stürzen sich hinein, Howard!«
Immer mehr und mehr Motten schwebten lautlos aus der Dunkelheit herbei und stürzten sich blindlings in die Flamme, um zu verglühen. Es waren mehr als die zehn oder zwölf, die ich gesehen hatte; viel mehr. Hunderte der kleinen Tiere schienen den Weg ins Haus gefunden zu haben - und sie wurden magisch von der immer höher und höher auflodernden Flamme angezogen!
Aber das flackernde gelbe Licht enthüllte auch noch einen anderen Anblick. Ein Bild, das mir wie eine eisige Faust den Magen zusammenkrampfte ...
Es war Rowlf. Er war in blinder Panik durch die Halle gestürzt und wohl im Dunkeln zu Fall gekommen. Jetzt saß er in einer grotesken, wie mitten in der Bewegung erstarrten Haltung halb auf dem Rücken liegend, halb auf die Ellbogen hochgestemmt und die rechte Hand zur Brust erhoben, da. Er starrte aus hervorquellenden Augen auf die winzige graue Motte, die wie ein Kolibri mit irrsinnig schnellen Flügelschlägen dicht über seiner Brust in der Luft schwebte und sich nicht entschließen zu können schien, ob sie sich auf ihn oder die lockende Flamme wenige Schritte weiter entfernt stürzen sollte ...
»Um Gottes willen, Rowlf!« keuchte Howard. Seine Stimme klang beschwörend. »Rühr dich nicht! Ich komme!«
Rowlfs Lippen zuckten. Sein Gesicht war schreckensbleich. Kalter Schweiß perlte auf seiner Oberlippe. Der eine Arm, auf den er sich erhoben hatte, zitterte vor Anspannung. Er würde diese unbequeme Stellung nur noch Sekunden aushalten können, das sah ich.
»Ich komme!« flüsterte Howard. »Rühr dich nicht, Rowlf! Ich helfe dir!«
Rowlf schluckte mühsam. Die winzigen grauen Flügel berührten nahezu sein Gesicht.
Howard überwand die letzten Meter mit einem verzweifelten Satz, warf sich nach vorne und schlug mit einem dunklen, langgestreckten Gegenstand zu, den er in der Hand hielt.
Die Motte wurde davongewirbelt, prallte mit einem hörbaren Knacken gegen das Treppengeländer und fiel zuckend zu Boden. Sekunden später senkte sich Howards Fuß auf das Tier herab und zermalmte es.
Aber es war noch nicht vorbei. Das Blitzen und Funken im Herzen der Flamme war erloschen, aber von draußen drang jetzt wieder das helle Prasseln der Tiere herein, die das Licht durch das Fenster sahen und hereinzukommen versuchten.
Ich hatte das Gefühl, die Scheiben unter ihrem Ansturm klirren zu hören. Aber das war natürlich Unsinn. Selbst Milliarden der kleinen Tiere konnten das massive Glas der beiden Bleiglasfenster nicht eindrücken.
»Wir müssen weg hier!« keuchte Howard, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die Tür hält ihrem Ansturm nicht stand.«
Ich wollte widersprechen, aber ein rascher Blick zum Ausgang belehrte mich eines Besseren. Die Motten prasselten noch immer wie Sand, der vom Sturm gepeitscht wurde, gegen die Tür und die beiden Fenster - aber es war keine massive Eichentür mehr, gegen die sie anrannten! Das zweifingerdicke Holz war rissig und porös geworden. Die Farbe blätterte in großen, häßlichen Flecken von ihrer Oberfläche, und das Holz darunter war alt und häßlich geworden; breite, wie erstarrte Blitze verlaufende Risse durchzogen seine Oberfläche. Grauer Staub rieselte an ihr herab.
Sie alterte! Die Tür alterte in Sekunden um die gleiche Anzahl von Jahren ...
»Mein Gott!« murmelte ich. »Sie ... kommen durch!«
»In die Bibliothek!« sagte Howard. »Wir müssen hinauf. Das ist der einzige Ort, an dem wir sicher sind.« Er richtete sich auf und wies mit einer befehlenden Geste zum oberen Ende der Treppe. »Alles nach oben!« schrie er. »In die Bibliothek, schnell!«
Charles und zwei oder drei der Dienstboten, die sich angstvoll in die Ecken gekauert hatten, begannen die Treppe hinaufzustürmen, während Howard mit einer abrupten Kopfbewegung auf eine Tür am anderen Ende der Halle wies. »Der Kutscher!« sagte er. »Wir müssen ihn holen!«
Rowlf wollte sich umdrehen und loslaufen, aber Howard hielt ihn zurück. »Bring die Diener nach oben!« befahl er. »In die Bibliothek - schnell. Robert und ich holen ihn.«
Nebeneinander rannten wir los. Das Prasseln gegen die Tür und die Fenster wurde lauter und klang jetzt wie Gewehrfeuer, und als ich im Laufen den Kopf wandte und zurücksah, bemerkte ich, daß die Tür nicht mehr ganz gerade in den Angeln zu hängen schien. Eine Anzahl winziger dunkler Punkte schien vor ihr in der Luft auf und ab zu hüpfen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich da waren oder ob es nur meine Angst war, die sie mir vorgaukelte.
Howard stieß die Tür ohne viel Federlesens mit der Schulter auf, stürzte hindurch - und blieb so abrupt stehen, daß ich um ein Haar gegen ihn geprallt wäre.
Der Kutscher lag noch so auf dem Bett, wie wir ihn hingelegt hatten. Und über seinem Kopf kreiste ein ganzer Schwarm der kleinen, fahlgrauen Motten.
Howard deutete stumm auf ein offenstehendes Fenster. Rahmen und Glas waren alt und brüchig geworden, und durch den handbreiten Spalt quollen immer mehr und mehr Motten herein. Es mußten bereits Hunderte sein, und von draußen kamen immer mehr nach.
Vorsichtig näherten wir uns dem Bett. Der Kutscher regte sich stöhnend, und die quirlende Bewegung des Mottenschwarmes wurde schneller, unruhiger. Erschrocken blieb ich stehen, fuhr mir nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und machte einen weiteren, vorsichtigen Schritt.
Der Kutscher öffnete stöhnend die Augen. Sein Blick war noch verschleiert. Er versuchte sich hochzustemmen, sank mit einem Seufzer wieder zurück - und erstarrte vor Schreck, als er das graue Wirbeln über sich gewahrte. Ich konnte direkt sehen, wie seine Erinnerungen mit grausamer Wucht zurückkehrten.
»Um Gottes willen - rühren Sie sich nicht!« keuchte Howard. »Keine hastige Bewegung!«
Aber es war - wenn Ron seine Warnung überhaupt hörte - zu spät. Der lebende Teppich über ihm wogte weiter hin und her, und drei, vier der kleinen Tiere ließen sich neben ihm auf die zerwühlte Bettdecke sinken.
Sofort begann der Stoff unansehnlich und grau zu werden. Und eine einzelne, münzgroße Motte ließ sich mit einem lautlosen Flügelschlag auf seine Brust sinken.
Ron schrie auf, fuhr hoch und schloß mit einer blitzschnellen Bewegung die Faust um das Tier.
»Nein!« schrie Howard. »Nicht! Werfen Sie sie weg!«
Ron schloß die Faust noch fester um die Motte, richtete sich auf und blickte abwechselnd Howard und seine zusammengepreßten Finger an.
Es ging ganz schnell.
Seine Finger wurden grau.
Die Haut riß, aber sie blutete nicht, sondern rollte sich wie trocken gewordenes Pergament auf. Adern und Sehnen traten wie Stricke durch die dünner werdende Haut, seine Hand verkrampfte sich, zog sich wie unter einer inneren Spannung zusammen und wurde zu einer verkrümmten ausgemergelten Klaue.