Aber der Sekundenbruchteil, den ich abgelenkt gewesen war, seine Waffe beiseite zu stoßen, war schon zu viel gewesen. Der Arm des Mannes kam mit einer blitzartigen Bewegung hoch, fing meinen Hieb ab und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Nahezu im gleichen Sekundenbruchteil traf seine andere Hand meinen Leib, in einer sonderbaren Haltung nach oben gereckt und die Finger einwärts gekrümmt, so daß mich nur der Handballen traf.
Es war wie eine Explosion. Ich prallte gegen die Wand, bekam keine Luft. Farbige Kreise tanzten vor meinen Augen. Meine Glieder wurden schwer. Alle Kraft schien aus meinem Körper gewichen, und meine Bewegungen waren von einer quälenden Langsamkeit. Wie durch einen roten Nebel sah ich, wie der Drachenkrieger einen halben Schritt zurückwich, ganz leicht in den Knien einknickte und sich blitzartig um die eigene Achse drehte.
Sein Fuß traf meine Rippen. Ich hörte meine eigenen Knochen knacken, kippte mit einem lautlosen Schmerzensschrei - denn ich bekam noch immer keine Luft - nach vorne und griff blindlings zu. Zwischen meinen Fingern war plötzlich glatter, seidiger Stoff. Instinktiv klammerte ich mich daran, riß mit aller Kraft und zerrte ihn mit mir, als ich zu Boden stürzte.
Der Drachenkrieger machte sich mit einem zornigen Ruck frei, taumelte ein Stück nach hinten und griff instinktiv nach der steinernen Balkonbrüstung.
Sie zerbröckelte unter seinen Fingern zu Staub.
Die Augen des Maskierten weiteten sich entsetzt. Einen Moment lang hing er mit wild rudernden Armen in einer unmöglichen Schräglage in der Luft, dann kippte er ganz langsam nach hinten, stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte in die Tiefe. Das Geräusch, mit dem er in der Halle aufschlug, klang seltsam gedämpft und weich in meinen Ohren.
Ich krümmte mich vor, krampfte die Hände über dem Leib zusammen und rang verzweifelt nach Luft. Ich konnte wieder atmen, aber jeder einzelne Atemzug war eine Orgie der Qual. Schleier wogten vor meinen geschlossenen Augen, und mein Herz schlug rasend, als wolle es zerbersten.
Jemand berührte mich an der Schulter und stellte mich auf die Beine, und ich hörte eine Stimme, die meinen Namen rief, aber alles erschien mir unwirklich und sehr weit weg, als hallten die Worte über einen unendlich tiefen Abgrund zu mir herüber ...
Eine Hand klatschte in mein Gesicht, und der neuerliche Schmerz riß mich in die Wirklichkeit zurück. Ich stöhnte, öffnete die Augen und hob instinktiv die Hände vor das Gesicht, um mich vor neuen Schlägen zu schützen. Rowlf hatte mich gepackt und gegen die Wand gelehnt. In seinem Blick flammte eine Mischung aus Sorge und Angst, und seine Linke war zum Schlag erhoben.
»Nicht mehr ... schlagen!« stammelte ich. »Es ... geht wieder.«
Rowlfs Blick nach zu schließen, zweifelte er diese Tatsache erheblich an. Aber er ließ die Hand gehorsam sinken und ließ auch meine Rockaufschläge los, griff aber sofort wieder zu, als ich prompt zusammenzusacken begann. Wieder überkam mich Schwäche, aber diesmal war es nicht dieser böse, rasende Blutrausch, der meine Sinne zu vernebeln begann, sondern nur die Nachwirkungen der mörderischen Hiebe, die ich hatte hinnehmen müssen.
»Howard«, murmelte ich. »Was ist mit ... Howard?«
Statt einer Antwort richtete Rowlf mich auf, griff mit beiden Händen unter meine Achseln und schleifte mich zur Balkonbrüstung.
Trotz des nur schwachen Lichtes, das die einzeln dastehende Lampe verbreitete, konnte ich die weitläufige Eingangshalle gut überblicken. Aber das Bild, das sich mir bot, ließ mir abermals den Atem stocken.
Howard und der Kutscher hockten zusammengesunken wenige Schritte vor der Treppe, zwei einsame Gestalten in einem Meer winziger, grauer Körper. Der Drachenkrieger lag wenige Schritte neben ihnen, verkrümmt und halb eingesunken in die knöcheltiefe graue Masse, die seinem Aufprall nichts von der tödlichen Wucht genommen hatte. Einer Masse, die den Boden der Halle von einem Ende zum anderen bedeckte.
Motten.
Es mußten Millionen sein, Millionen und Abermillionen der winzigen tödlichen Tiere, die durch die zerborstenen Fenster hereingequollen waren. Sie bedeckten nicht nur den Boden, sondern auch die Möbel, Bilder- und Türrahmen, Deckenleisten ... jeder noch so winzige Vorsprung schien mit flockigem grauem Schnee bedeckt, und plötzlich spürte ich auch den fremdartigen scharfen Geruch, der die Luft erfüllte.
Und die Motten waren nicht nur unten in der Halle. Auch die Treppenstufen waren von dem grauen Schnee bedeckt, und als ich den Blick senkte, gewahrte ich auch unter meinen Füßen eine dünne, graue Schicht, in der es ununterbrochen zu zucken und zu beben schien, zertrampelt und aufgewühlt von den Spuren des Kampfes, aber allgegenwärtig.
Dann begann der lähmende Schrecken zu weichen, und ich sah, daß die drohende Bewegung nur meiner Einbildung entsprungen war.
Die Motten rührten sich nicht mehr, so wenig wie die, die den Boden der Halle bedeckten.
Sie waren tot.
Alle.
Der Mann erwachte aus seiner Starre. Stundenlang hatte er wie tot dagestanden, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur die Lider zu heben, ja, selbst ohne zu atmen. Es war nur sein Körper gewesen, der unter dem Dach des verfallenen Hauses zurückgeblieben war. Sein Geist hatte an einem anderen Ort geweilt, nur ein paar Meilen entfernt und doch durch Welten von dem einzeln dastehenden, abbruchreifen Haus entfernt.
Jetzt erwachte er. Seine Brust hob sich mit einem mühevollen Atemzug, und sein Blick irrte einen Moment unstet hin und her, als fände er den Weg in die Wirklichkeit nicht gleich zurück.
Etwas war nicht so, wie es sein sollte.
Er wußte nicht, was es war. Er hatte getan, was man ihm aufgetragen hatte, aber irgend etwas anderes, Fremdes, etwas ... ja, Feindseliges hatte das geistige Band, das ihn mit dem Haus am anderen Ende der Stadt verband, zerschnitten.
Lange Zeit stand er schweigend im Dunkeln und starrte den grauweißen Riesenkokon vor sich an. Nur wenige Motten waren darauf zurückgeblieben, als die Dunkelheit und die Zeit ihres Schwärmens gekommen war, und auch sie wirkten seltsam träge und schwach. Als lähmte sie etwas, dachte der Mann.
Aber was? Er versuchte erneut, Kontakt mit seinen mörderischen kleinen Dienern aufzunehmen, aber die Verbindung war abgeschnitten; etwas blockierte die Wege, die sein Geist gegangen war, um die Tiere zu lenken.
Wieder vergingen Minuten, bis der dunkel gekleidete Fremde aus seiner Starre erwachte. Er trat noch einmal an den gewaltigen grauen Kokon heran, streckte die Hand aus, als wolle er ihn berühren, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern wandte sich im letzten Moment um und verließ mit raschen Schritten den Dachboden. Die ausgetretenen Stufen ächzten unter seinem Gewicht, als er die baufällige Treppe hinuntereilte.
Er würde wiederkommen. Er würde wiederkommen und herausfinden, was es war, das ihn an der Vollendung seiner Aufgabe hinderte. Er würde es herausfinden, das Hindernis beseitigen und tun, wozu er gekommen war. Er zweifelte nicht daran, denn er war etwas, das man ihm nicht ansah, etwas, das ihn mächtiger und gefährlicher machte als die, deren Gestalt er sich bediente, solange er in dieser Stadt war. Er war ein Magier.
Howards Hand zitterte so stark, daß er fast das Streichholz fallen ließ, mit dem er eine Zigarre anzünden wollte. Er war bleich, und sein Atem ging stoßweise und schnell, als wäre er meilenweit gelaufen.
Auf der Tischplatte vor ihm stand ein geleertes Glas, auf dessen Boden noch ein kleiner Rest goldgelben Whiskys schimmerte; es war das achte oder neunte, das er im Laufe der letzten halben Stunde hinuntergestürzt hatte. Aber die beruhigende Wirkung des Alkohols war bisher ausgeblieben.
Es war seltsam still geworden in der Bibliothek. Obwohl sich annähernd zehn Personen in dem kleinen Raum aufhielten, war es so ruhig, daß man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können.
Ich fühlte mich elend. Es waren nicht allein die pochenden Schmerzen, die wie kleine brennende Nadeln von meinen geschundenen Rippen ausgingen und jeden Atemzug zu einer Qual machten, und nicht allein die Schwäche und die Nachwirkungen der Todesangst, die ich in wenigen Minuten ein dutzendmal hintereinander gespürt hatte.