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Es war ein Kreis mit gezacktem Rand, wie eine stilisierte Sonnenscheibe. In seinem Inneren war ein Pferd abgebildet, auf dem zwei nur mit Lendenschürzen bekleidete Männer saßen, beide das Gesicht dem Betrachter zugewandt. Der zuvorderst Sitzende hielt eine Lanze in der hochgereckten Rechten, während sein Hintermann die Hände wie zum Gebet zusammengelegt hatte.

Das Streichholz war abgebrannt, und die Flamme versengte mir die Fingerspitzen. Ich warf es fort, deckte das Gesicht des Toten wieder zu und stand auf.

Ich fühlte mich elend. Ich war in der Lage eines Menschen, der tatenlos zusehen muß, wie die Welt, in der er bisher gelebt hatte, Stück für Stück um ihn herum auseinanderbricht. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich zu begreifen, was das Wort Hilflosigkeit wirklich bedeutete.

Ich schluckte, um den bitteren Geschmack loszuwerden, der plötzlich auf meiner Zunge war. Fast gegen meinen Willen fand mein Blick das goldgerahmte Bild meines Vaters, das als letztes in einer schier endlosen Reihe von Portraits die Wände zierte.

Langsam ging ich weiter, blieb auf Armeslänge vor dem überlebensgroßen Portrait stehen und betrachtete die scharfen, asketisch wirkenden Züge des Mannes, den es zeigte.

Roderick Andara.

Mein Vater ...

Irgendwie klangen die Worte bitter in meinen Gedanken; seine Züge kamen mir härter vor als die Male, die ich das Bild vorher angesehen hatte, der Ausdruck in seinen dunklen, klaren Augen erbarmungsloser, nein - entschlossener.

Er war mein Vater gewesen - aber was wußte ich wirklich über ihn? Wenig mehr als seinen Namen. Ich hatte sein Erbe angetreten, beinahe gegen meinen Willen, und ich hatte bisher nicht einmal in Ansätzen begriffen, woraus dieses Erbe bestand.

Robert Craven - der Hexer.

Fast hätte ich gelacht. Ich hatte gelernt, ein paar Kunststückchen aufzuführen. Ein bißchen Firlefanz, ein paar Täuschungen, gerade genug, mich auf irgendwelchen langweiligen Stehpartys der besseren Londoner Gesellschaft wichtig zu machen. Einmal, ein einziges Mal, hatte ich die Macht, die mir Andara vererbt hatte, wirklich benutzt.

Und damit einen Menschen getötet.

»Ist es das, was du mir vererbt hast, Vater?« fragte ich leise. »Ist das dein Erbe? Tod und Unheil?«

Natürlich bekam ich keine Antwort. Auch wenn ich mehrmals Kontakt mit dem Geist - oder der Seele oder wie immer man es nennen will - meines verstorbenen Vaters gehabt hatte, so glaubte ich doch nicht im Ernst daran, mich mit einem Bild unterhalten zu können. Aber ich mußte einfach reden, zu irgend jemandem oder auch irgend etwas. Manchmal erleichtert es selbst, mit einem Bild zu sprechen.

»Oder ist es der Fluch Necrons?« fuhr ich fort.

»Etwas von beidem, Robert«, sagte eine sanfte Stimme hinter mir.

Ich drehte mich herum und erkannte Rowlfs massige Gestalt wie einen Berg in der Dunkelheit hinter mir.

»Was weißt du von ihm?« fragte ich.

»Andara?« Rowlf überlegte einen Moment. »Nicht viel. Ich habe ihn nur einmal gesehen, und da auch nur für ‘n Paar Augenblicke. Aber Howard hat viel über ihn gesprochen. Ich glaube nicht, daß er ein so harter Mann war, wie du denkst, Robert.«

»Denke ich das?«

Rowlf nickte. »Deine Stimme klang sehr bitter gerade. Aber du tust ihm unrecht. Und dir auch.«

»Worte«, murmelte ich. »Worte, Rowlf. Sie bringen Priscylla nicht zurück und machen Tornhill und all die anderen nicht wieder lebendig.«

»Aber dich trifft keine Schuld!« beharrte Rowlf.

»Ich werde dieses Haus verlassen«, sagte ich. »Sobald ... alles vorbei ist.«

»Vorbei?« Rowlf schüttelte den Kopf. »Es wird nie vorbei sein, Robert. Glaubst du, du könntest deinem Schicksal davonlaufen?«

»Ich ... glaube überhaupt nichts«, antwortete ich unsicher. »Ich weiß nur, daß ich Katastrophen anzuziehen scheine wie das Aas die Fliegen. Wenn das das Erbe meines Vaters ist, dann will ich es nicht.«

»Und was willst du statt dessen? Aufgeben?«

»Aufgeben!« sagte er noch einmal, und diesmal hörte es sich an wie eine Beschimpfung. »Du läufst weg. Du schließt die Augen und vergräbst den Kopf im Sand, statt dich zu wehren! Und ich dachte, du könntest mir helfen!«

»Helfen?« Ich lächelte bitter. In mir war nichts als Leere. »Wobei sollte ich dir helfen können? Auf eine besonders originelle Art und Weise ums Leben zu kommen, wie dieser Mann?«

»Dein Selbstmitleid hilft dir auch nicht weiter«, sagte Rowlf hart.

»Selbstmitleid? Ich glaube nicht, daß es nur das ist, Rowlf. Es sind Menschen gestorben.«

»Dann suche die, die dafür verantwortlich sind, und bestrafe sie, verdammt noch mal!« polterte Rowlf. »Begreifst du eigentlich nicht, daß Necron und diese -«

»... diese Ungeheuer in Menschengestalt«, führte er den Satz zu Ende, »nichts als ein Spiel mit dir spielen? Und du läßt dich herumschubsen wie eine Schachfigur und gibst dir auch noch die Schuld an allem! Verdammt, ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche, Robert!«

»Und wobei?« fragte ich. Seine plötzliche Erregung war mir unerklärlich. Aber eigentlich war es auch alles andere als normal, daß Rowlf mitten in der Nacht aufstand, um mit mir zu reden.

»Howard«, sagte er. »Du hast mit ihm gesprochen, nicht wahr?«

»Ich habe es versucht«, antwortete ich. »Aber ich fürchte, es hat nicht viel genutzt.«

»Genutzt?« Rowlf lachte auf, brach abrupt ab und wandte in einer fast ängstlichen Geste den Kopf. Aber hinter der Tür von seinem und Howards Zimmer blieb es still.

»Er will gehen, Robert«, sagte er.

»Ich weiß.«

Rowlf schüttelte fast zornig den Kopf. »Du weißt gar nichts. Der Angriff auf uns galt ihm, Robert. Und der Mann, der hinter all dem steckt, ist nicht dieser Tote hier.«

»Du ... meinst, sie könnten ... sie könnten wiederkommen?« flüsterte ich entsetzt.

»Ich meine gar nichts«, sagte Rowlf grob. »Aber Howard hat Angst davor. Er weiß, daß wir unangreifbar sind, solange wir dieses Haus nicht verlassen. Aber er hat Angst, daß diese Ungeheuer anderswo in der Stadt auftauchen könnten. Er ... er glaubt, was heute abend passiert ist, war nur eine Warnung, verstehst du?«

»Nein«, sagte ich ehrlich.

Rowlf seufzte. »Wir - das heißt, Howard - glaubt, daß seine ... Brüder hier in der Stadt sind. Nicht van der Groot oder dieser gedungene Mörder hier, sondern einer vom Inneren Zirkel, ein Magier wie du oder dein Vater. Er ist hier, um ihn zu holen, Robert. Der erste Anschlag ist daneben gegangen, aber er wird es wieder versuchen. Und das nächste Mal wird er vielleicht an einem Ort zuschlagen, an dem wir nicht geschützt sind. Und andere auch nicht.«

Seine Worte ließen mich innerlich erschauern. Wie in einer blitzartigen, furchtbaren Vision liefen die grausigen Szenen noch einmal vor meinem inneren Auge ab. Die Vorstellung eines Schwarmes der mörderischen Killer-Motten, der irgendwo frei in der Stadt herumflog, war unerträglich.

»Und was ... hat Howard vor?« fragte ich.

»Er glaubt zu wissen, wo sich der Magier verborgen hält«, antwortete er. »Er will zu ihm gehen.«

»Und wann?«

»Morgen früh«, antwortete Rowlf. Ich spürte, wie schwer es ihm fiel, diese beiden Worte auszusprechen. Für ihn mußte es so sein, als verriete er Howard. »Kurz vor Einbruch der Dämmerung verläßt er das Haus. Wenn die Sonne aufgeht, will er ihn treffen. Es ... hat irgend etwas mit ihren Regeln zu tun.«

»Mit ihren Regeln«, sagte ich betont, auf eine so lauernde Art, daß Rowlf aufsah und mich fast mißtrauisch anblickte. »Wer sind diese geheimnisvollen Sie, Rowlf?« fuhr ich fort. »Wer sind diese Männer, daß selbst Howard Angst vor ihnen hat?«