Rowlf wollte antworten, aber ich spürte, daß er wieder eine seiner üblichen Ausflüchte vorbringen würde, und schüttelte rasch den Kopf. »Sag mir die Wahrheit, Rowlf«, sagte ich leise, aber so eindringlich, wie ich konnte. »Ich glaube dir nicht mehr, daß du nicht weißt, wer sie sind. Und ich bekomme es so oder so heraus.«
Rowlf starrte zu Boden und druckste eine Weile herum. »Ich ... habe Howard geschworen, niemandem etwas zu sagen«, murmelte er.
»Vergiß es«, antwortete ich grob. »Es geht um sein Leben, Rowlf!«
»Templer«, sagte er schließlich. »Es sind Templer.«
»Templer?« Ich starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an. »Du ... du meinst den Orden der ... der Tempelherren?«
Rowlf nickte. »Ja. Die kämpfenden Mönche, Robert.«
»Aber das ... das ist unmöglich«, flüsterte ich, obwohl ich ganz genau wußte, daß er die Wahrheit sagte. »Das ist -«
»Es ist die Wahrheit, Robert.«
Verzweifelt kramte ich in meinen Erinnerungen, suchte nach irgend etwas, womit ich seine Behauptung entkräften oder ihr wenigstens etwas von ihrem Schrecken nehmen konnte. »Aber die ... die Tempelritter wurden ausgelöscht«, sagte ich schließlich schwach. »Soweit ich weiß, hat sie -«
»Philipp der Schöne im dreizehnten Jahrhundert vernichtet«, unterbrach mich Rowlf. »Ich - weiß.« Plötzlich klang seine Stimme ungeduldig. »Jeder glaubt, daß es so wäre. Aber es ist nicht die Wahrheit. Der Orden der Tempelritter hat niemals aufgehört zu existieren. Sie sind in den Untergrund gegangen, das ist alles. Sie existieren weiter, und sie sind mächtiger als je, Robert. Viel mächtiger als dieser Narr Necron. Er ist nur einer, aber sie sind Hunderte. Sie sind nicht mehr, was sie waren. Viele von ihnen haben magisches Wissen erworben. Howard hat Angst vor ihnen, Robert, und mit Recht. Du hast erlebt, wie wenig diesen Bestien ein Menschenleben gilt. Sie werden weiter töten, wenn Howard sich ihnen nicht ausliefert.« Er brach ab, schwieg einen Moment und fügte, viel leiser und in niedergeschlagenem Tonfall hinzu: »Aber wenn er es tut, bringen sie ihn um.«
»Dann müssen wir ihn daran hindern«, sagte ich.
Rowlf schnaubte. »Hindern? Eher hinderst du die Themse daran, ins Meer zu fließen, Junge. Howard würde mich erschießen, wenn er wüßte, daß ich jetzt hier bin und mit dir rede.« Er schüttelte den Kopf, blickte mich einen Moment durchdringend an und starrte dann zu Boden.
»Und was«, sagte ich, als klar wurde, daß er nicht von sich aus weiterreden würde, »willst du tun?«
Er sagte es mir.
Im Osten begann ein Streifen blaßroter Helligkeit das Grau der Dämmerung aufzulösen. Die Straße atmete noch die Kälte der Nacht, und im roten Gegenlicht des Sonnenaufganges sah die Silhouette der Stadt aus wie eine gezackte, an zahllosen Stellen ausgebrochene Festungsmauer.
Rowlf machte mir mit der Hand ein Zeichen, und ich duckte mich tiefer hinter den moosbewachsenen Mauerrest, hinter dem ich Deckung genommen hatte. Mein Blick bohrte sich in das wogende Grau der Schatten, die die Straße vor uns in eine bizarre, irreal wirkende Kulisse verwandelten. Das einzig Wirkliche schien der schwarze, zu einem tiefenlosen Schatten gewordene Umriß der Kutsche zu sein, die ein Stück weiter die Straße hinunter stand.
Die beiden Pferde in ihrem Geschirr regten sich von Zeit zu Zeit; dann und wann scharrte ein Huf über Stein oder klirrte Metall, aber selbst diese Laute wirkten irgendwie falsch und unwirklich auf mich.
Ich verscheuchte den Gedanken und versuchte, mich ganz auf das Fuhrwerk und seinen Insassen zu konzentrieren. Das Ruinengrundstück, auf dem Rowlf und ich Stellung bezogen hatten, gewährte uns freien Blick über die ganze Straße, ohne daß wir selbst gesehen werden konnten.
Allerdings hätte es auch kaum jemanden gegeben, der uns hätte sehen können. Der Teil Londons, in dem wir uns befanden, schien ausgestorben zu sein. In keinem einzigen der Häuser, die die Straße vor uns flankierten, brannte Licht, nirgends waren die Spuren menschlichen Lebens sichtbar; unsere Umgebung wirkte wie eine Geisterstadt.
Rowlf und ich hatten uns abgewechselt, in einem finsteren Winkel der Halle Wache zu halten, bis Howard - wie Rowlf es vorausgesagt hatte, wenige Minuten vor Einbruch der Dämmerung - aus seinem Zimmer getreten war und das Haus durch den Hinterausgang verlassen hatte; zweifellos, um die Kutsche aus der Remise zu holen und zu seiner Verabredung zu fahren.
Wir hatten ihn erwartet, als er das Grundstück verließ. Rowlfs Rechnung war aufgegangen - Howard hatte der Kutsche, die ein paar Dutzend Schritte nördlich des Hauses am Straßenrand stand, keinerlei Beachtung geschenkt, sondern war schnurstracks in entgegengesetzter Richtung losgefahren.
Von da ab waren wir ihm gefolgt; Rowlf, der sich in Rons Kutschermantel und -zylinder prächtig auf dem Bock des Wagens ausmachte, ich hinter den zugezogenen Gardinen des Zweispänners. Howard hatte ein scharfes Tempo eingeschlagen, und eine kurze Weile hatte ich beinahe befürchtet, daß er uns bemerkt hätte, denn er fuhr, immer schneller und schneller werdend, kreuz und quer durch die Stadt, scheinbar ohne Ziel oder Plan.
Dann hatte ich begriffen, daß er suchte. Er wußte selbst nicht genau, wo dieser Mann war, der ihm am vergangenen Abend seine furchtbare Botschaft hatte zukommen lassen.
Immer wieder hatte er angehalten, einmal sogar gewendet, um ein Stück des Weges zurückzufahren, dann jedoch wieder die ursprüngliche Richtung eingeschlagen und war weitergefahren, bis er schließlich das Gebiet der Stadtmitte verließ und sich mehr und mehr nach Norden wandte.
Kurz vor Sonnenaufgang schließlich hatte er seinen Wagen in dieses verfallene, scheinbar menschenleere Viertel am nördlichen Rande der Stadt gelenkt. Rowlf hatte unseren Wagen weiter zurückfallen lassen, denn den Verkehr, den es trotz der frühen Stunde weiter stadteinwärts bereits gegeben hatte und der uns Schutz gewährte, gab es hier nicht mehr, und schließlich hatten wir uns nur noch an den Echos der Pferdehufe orientieren können.
Dann hatte er angehalten. Rowlf und ich hatten unseren Wagen in sicherer Entfernung zurückgelassen, waren zu Fuß weiter herangekommen, und hatten uns schließlich auf diesem Ruinengrundstück auf die Lauer gelegt.
Seither warteten wir.
Ich wußte nicht, wie lange ich schon frierend hinter dem halbmeterhohen Mauerrest lag und zu der Kutsche hinüberstarrte.
Meine Finger waren taub und gefühllos geworden, und die geprellten Rippen schmerzten beinahe unerträglich. Das Warten wurde zu einer Qual, aber wir konnten nichts anderes tun, als dazuliegen und zu beobachten. Howard würde sofort die Flucht ergreifen, wenn er auch nur argwöhnte, daß wir ihm gefolgt sein könnten.
Unsere Situation kam mir mit jedem Moment absurder vor. Während der Nacht, als Rowlf mit mir geredet hatte, hatte alles so klar und logisch ausgesehen; aber jetzt ...
Allein die Vorstellung, Howard - ausgerechnet Howard, diesen eiskalten Logiker - mit irgendeinem obskuren Geheimbund in Verbindung zu bringen, erschien mir aberwitzig.
Howard und Mitglied einer Loge? Howard als Jünger irgendeiner Bruderschaft, die bei Mitternacht in albernen Kostümen herumhüpfte und den Mond oder den heiligen St. Einseifer anbetete?
Lächerlich!
Irgend etwas traf die Mauer dicht vor meinem Gesicht. Ich schrak zusammen, sah auf und zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als Rowlf einen zweiten Kiesel in meine Richtung warf, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Linke deutete heftig gestikulierend nach oben. Ich rutschte hinter meiner Deckung auf den Knien herum und blickte in die Richtung in die seine Hand wies.
Im ersten Moment erkannte ich nicht einmal, was er meinte. Der Himmel hatte sich weiter aufgehellt, und der flimmernde rosarote Streifen über der Stadt war breiter geworden. Es wurde hell. Trotzdem hing über unseren Köpfen noch eine dräuende Decke aus grauer Dämmerung und bauchigen schweren Wolken.