»Dann war es vielleicht auch der Wille des Herrn, daß zwei unschuldige Menschen sterben mußten, durch eure ... eure Bestien?« schnappte Howard zornig.
»Hüte deine Zunge, Bruder Howard! Nicht mehr lange, und du wirst dem gegenüberstehen, den du jetzt noch lästerst. Und deine Vorwürfe sind unberechtigt. Es ... mag sein, daß ein scheinbar Unschuldiger sterben mußte, doch wenn, so trifft allein dich die Schuld daran. Hättest du dein Schicksal angenommen, statt vor ihm zu fliehen, wäre all dies nicht geschehen.«
»Ruf sie zurück!« verlangte Howard, als hätte er die Worte des anderen gar nicht gehört. »Du weißt nicht, was du tust! In dieser Stadt leben sechs Millionen Menschen! Sind sie vielleicht auch nur scheinbar unschuldig, du ... du verdammte Bestie!« Howards Stimme bebte. Ich hatte ihn niemals so erregt erlebt.
Aber seltsamerweise blieb die Stimme des anderen ruhig, ja, sie klang beinahe erheitert, als er antwortete.
»Du hast nichts zu verlangen, Bruder Howard«, sagte er.
»Und selbst wenn, so stünde es nicht in meiner Macht, deiner Forderung nachzukommen. Nur der, der sie erschaffen hat, kann sie auch wieder zu dem machen, was sie waren.« Er lachte ganz leise und sehr, sehr böse. »Du hättest nicht später kommen dürfen, Bruder Howard. Die Geduld des Meisters hat Grenzen, wie du weißt. Noch sind alle diese Tiere dort draußen nichts als harmlose kleine Insekten. Doch wenn die Sonne das nächste Mal sinkt, schwärmen sie aus.«
»Ihr ... ihr würdet das tun?« keuchte Howard. »Ihr würdet diese Bestien auf eine Stadt mit sechs Millionen Menschen loslassen, um einen einzigen Mann umzubringen?«
»Hinzurichten, Bruder Howard. Das Urteil über dich ist schon lange gesprochen. Niemand entgeht seiner gerechten Strafe. So, wie der Verräter van der Groot bestraft wurde, wirst auch du den Preis für den Frevel zahlen, den du begangen hast.«
»Van der Groot? Was ist mit ihm?«
»Ich habe ihn liquidiert. Es war recht einfach, in das Gefängnis einzudringen. Er hat unsere Sache verraten, wie du. Verräter leben nicht lange. Was jetzt geschieht, ist alles deine Schuld, Bruder Howard.«
»Das ... das ist teuflisch!« keuchte Howard. »Ihr maßt euch an, im Namen des Herrn zu sprechen, und im gleichen Atemzug verurteilst du Millionen Unschuldiger zum Tode.«
»Es steht mir nicht zu, über die Ratschlüsse des Meisters zu urteilen«, antwortete der andere lakonisch. »Du kannst selbst mit ihm diskutieren, Bruder Howard. Wenn er dich anhört, heißt das.«
»Selbst?« wiederholte Howard verwirrt. »Was ... was heißt das?«
»Er erwartet dich«, antwortete der andere. »Nicht sehr weit von hier. Und wir sollten gehen, ehe seine Geduld vollends erschöpft ist. Du weißt, wie wenig langmütig er sein kann.«
»Er ist hier?« keuchte Howard. »In London? DeVries selbst ist hier in der Stadt? Der Animal-Master des Ordens ist selbst gekommen?«
Der andere lachte leise. »Ja. Du siehst, es geht hier nicht nur um einen einzelnen Mann, Bruder Howard. Es geht um dich. Und du bist etwas Besonderes.«
Irgendwo tief unter mir klirrte etwas. Glas zerbrach, und dann glaubte ich ein leises Prasseln und Knistern zu hören. Fünf Minuten! hatte Rowlf gesagt. Keine Sekunde länger!
Ich versuchte erst gar nicht, auf die Uhr zu sehen - die fünf Minuten mußten längst um sein, und draußen wurde es hell -, sondern wich einen Schritt zurück, holte Schwung und warf mich mit aller Gewalt gegen die Tür.
Das morsche Holz zersplitterte unter meinem Anprall. Ich taumelte durch die Tür, fiel auf ein Knie und sprang sofort wieder auf. Die Pistole sprang wie von selbst in meine Hand.
Ein Schatten flog auf mich zu. Ich wirbelte herum, riß die Waffe in die Höhe und krümmte den Finger um den Abzug. Aber ich drückte nicht ab. Denn der Mann, der auf mich zusprang, war Howard!
Howards Gesicht war zu einer Grimasse des Entsetzens verzerrt. Er schrie wie in Todesangst, warf sich auf mich und entrang mir mit einer einzigen, zornigen Bewegung die Waffe.
Seine Hand tastete nach meinem Arm, packte ihn und drehte ihn mit grausamer Wucht herum. Ich schrie auf, fiel nach vorn und begann hilflos mit den Beinen zu strampeln, als sich Howard auf meinen Rücken schwang und mich mit den Knien am Boden festnagelte.
»Es war nicht meine Schuld!« brüllte er. »Ich wußte nicht, daß er mir folgt! Du mußt mir glauben!«
Immer und immer wieder brüllte er diese Worte, und in seiner Stimme schwang dabei ein Entsetzen, das mich schaudern ließ.
»Ich wußte es nicht!« schrie er. »Sag DeVries, daß ich es nicht wußte! Er kann mich haben! Er kann mich haben!«
Aber es war niemand mehr da, der auf seine Worte antworten konnte.
Nach einer Weile ließ er meine Hand los, stand auf und ließ sich mit einem unterdrückten Schluchzen gegen die morsche Bretterwand in seinem Rücken sinken, und auch ich drehte mich herum, preßte den schmerzenden Arm an mich und versuchte, auf die Füße zu kommen. Mein Kopf dröhnte. Für einen Moment begann sich der zerfallene Dachboden vor meinen Augen zu drehen, als ich aufstand. Howard hatte wie ein Irrsinniger zugeschlagen.
Aber er machte keine Anstalten, mir auf die Beine zu helfen, sondern blickte mich nur aus starren Augen an.
»Du ... Narr«, flüsterte er. »Du verdammter, elender Narr. Weißt du überhaupt, was du getan hast?« Seine Stimme war ganz ruhig. Es war kein Vorwurf mehr darin, nicht einmal Zorn. Nur eine Kälte, die mich schaudern ließ.
»Er ist fort«, murmelte er.
»Ich weiß«, preßte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Irgendwo tief unter uns klirrte wieder Glas. Durch die nackten Dachsparren über unseren Köpfen sickerten die ersten Sonnenstrahlen herein.
»Er ist fort«, wiederholte Howard tonlos. »Er ist fort, Robert.«
»Verdammt, das war der Sinn der Aktion!« brüllte ich. »Wenn du dich nicht wie ein Rasender auf mich geworfen hättest, dann hätte ich den Kerl über den Haufen geschossen!«
Howard gab einen sonderbaren, beinahe schluchzenden Laut von sich. »Du weißt ja nicht, was du getan hast«, sagte er noch einmal.
»Doch«, antwortete ich. Allmählich begann ich in Rage zu geraten. Über unseren Köpfen ging die Sonne auf. Rowlf konnte gar nicht mehr länger warten! »Ich habe dir das Leben gerettet, du starrköpfiger, alter Narr! Glaubst du, ich sehe zu, wie du Selbstmord begehst?«
»Selbstmord?« Howard lachte schrill. »Es war die einzige Möglichkeit, diese Ungeheuer zurückzurufen! Begreifst du denn nicht? Wenn die Sonne das nächste Mal untergeht, werden sie zu Millionen über die Stadt herfallen!«
»Wenn die Sonne das nächste Mal untergeht, wird es sie nicht mehr geben«, antwortete ich gehetzt. »Und uns auch nicht, wenn wir nicht machen, daß wir hier heraus kommen.«
Howard starrte mich verständlich an. »Was -«
Ich unterbrach ihn, indem ich ihn an der Schulter packte und mit einem unsanften Stoß auf den Gang hinausbugsierte. Graue Schatten tanzten vor uns in der Luft. Motten, die von ihrem nächtlichen Schwärmen heimkehrten, um bis zum nächsten Sonnenuntergang zu ruhen.
Howard wehrte sich nicht mehr, aber er machte auch keine Anstalten, aus eigenem Antrieb weiterzugehen, sondern ließ sich wie ein willenloses Kind von mir an der Hand mitschleifen.
Noch einmal glaubte ich das helle Klirren von Glas zu hören, und das Geräusch spornte mich noch einmal zu größerer Schnelligkeit an. Wie von Furien gehetzt, jagte ich die Treppe hinab und zerrte Howard erbarmungslos mit mir. Wir fielen, polterten aneinandergeklemmt die letzten zehn, fünfzehn Stufen hinab und blieben einen Moment benommen liegen.
Als ich die Augen öffnete, sah ich einen winzigen, orangeroten Funken vor mir aufglühen ...