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»Sie werden mich in die Van Dengsterstraat fahren, nicht wahr?«

»Ich werde Sie in die ... Van Dengsterstraat fahren«, antwortete der Kutscher.

Und als ich in seine Augen sah, erblickte ich das Grauen. Es war eine Furcht, viel tiefer, als ich sie jemals bei einem Menschen gesehen hatte; ein Grauen, daß ihn selbst jetzt an den Rand des Zusammenbruchs trieb.

Es war nicht die Angst vor mir, wie ich im ersten Moment glaubte. Trotz des suggestiven Bannes, in dem ich sein Bewußtsein hielt, löste allein die Erwähnung der Van Dengsterstraat eine fast panische Angst in ihm aus.

Erschrocken löste ich meinen geistigen Griff, trat einen halben Schritt von der Kutsche zurück und sah den Mann mit einer Mischung aus Bestürzung und Unverständnis an. Er machte mir nichts vor; das konnte er gar nicht. Nein - sein Schrecken war echt.

Der Kutscher blieb noch eine Sekunde lang wie gelähmt und in sonderbar erstarrter Haltung auf seinem Bock hocken, dann stieß er einen keuchenden Schreckenslaut aus, schwang seine Peitsche und raste davon.

Verstört blickte ich der Kutsche nach. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, den Mann zurückzurufen; selbst jetzt noch. Aber ich tat es nicht. Ich hatte nicht nur die Macht meines Vaters geerbt, sondern mit ihr auch Verantwortung. Es stand mir nicht zu, einem Menschen eine solche Qual zu bereiten, wie ich sie in seinen Augen gelesen hatte.

Aber warum? dachte ich verwirrt. Was war in dieser Van Dengsterstraat, daß der bloße Gedanke daran einen Menschen halbwegs in den Wahnsinn trieb?

Erst nach einigen Augenblicken bemerkte ich den Passanten, der neben mir stehengeblieben war. Es handelte sich um einen kleinen, verhutzelten Mann, der einen schlecht sitzenden und selbst für Amsterdamer Verhältnisse mehr als altmodischen Anzug trug, und dessen spitzes Gesicht mich irgendwie an eine Ratte erinnerte. Seine Augen waren fast ohne Pupillen.

»Habe ich recht gehört, Mijnheer? Sie suchen die Van Dengsterstraat? Da kann ich Ihnen ganz sicher helfen«, sagte er und entblößte seine gelben Zähne zu einem widerlichen Grinsen. Die kleinen, rotgeränderten Augen starrten mich so lauernd an, als wolle er mein Innerstes nach außen kehren, um zu untersuchen, wie er mich am besten übers Ohr hauen konnte.

Der Kerl gefiel mir ebenso wenig wie ein Kilo Arsen zum Frühstück. Aber ich war viel zu verwirrt und betäubt von der extremen Reaktion des Kutschers, um den Gedanken zu Ende zu verfolgen. Und es war das erste Mal, daß ich jemanden traf, der wenigstens zugab, diese Straße zu kennen.

Der Fremde deutete mein Schweigen wohl als stumme Aufforderung, weiterzureden, und kam ihr nach. »Sie haben Ihre Suche an der falschen Stelle begonnen, Mijnheer. In diesem vornehmen Viertel werden Sie vergebens nach jemand suchen, der Sie zur Van Dengsterstraat fährt. Da müssen Sie schon in die Nähe des Hafens gehen und sich von einem Kahnführer hinbringen lassen.«

Er deutete eine Verbeugung an, die mir ziemlich grundlos erschien, und fuhr verschlagen fort: »Darf ich Ihnen den Schiffer Nies empfehlen? Sie finden ihn an der St.-Vincentius-Brücke!«

Mit einem Kichern lüftete der Mann seinen Hut und schlurfte die Straße hinab. Er ließ mich mit dem Gefühl zurück, daß er mehr über diese geheimnisvolle Adresse wußte, und so rief ich ihm nach.

»He! Sie da! Warten Sie! Ich habe noch eine Frage!«

Der Fremde ging unbeeindruckt weiter. Ich rief noch einmal nach ihm, aber mein geheimnisvoller Helfer schien ganz plötzlich mit Taubheit beschlagen zu sein.

Als ich hinter ihm herlief, begann auch er zu rennen. Er mußte Augen im Hinterkopf haben, denn ganz gleich, wie schnell oder wie langsam ich mich bewegte, er paßte sich immer meinem Schritt an, obwohl er sich kein einziges Mal nach mir umdrehte.

Zuerst rannte er immer geradeaus an der Gracht entlang, und ich dachte schon, er wolle schnurstracks zum Hafen laufen. Doch mit einem Mal bog er ohne jede Vorwarnung in eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern ein.

Keine fünf Sekunden später erreichte ich die Gasse ebenfalls und schaute hinein.

Sie war wie leergefegt. Von dem kleinen Mann mit dem Rattengesicht war keine Spur mehr zu sehen.

Meine Unachtsamkeit verwünschend, ging ich zweimal zwischen den tür- und fensterlosen Mauern auf und ab, ohne jedoch die geringste Spur von dem Mann zu finden. Schließlich gab ich die Suche auf und machte mich zur St.-Vincentius-Brücke auf, im stillen auf eine neuerliche, endlose Odyssee durch diese Stadt gefaßt. Aber zu meiner größten Verwunderung fand ich sie wenige Schritte hinter der Einmündung der Gasse, in der der rattengesichtige Mann verschwunden war. Und mit einem Mal war ich ganz sicher, daß er nicht zufällig in diese Richtung gelaufen war ...

Ein unbestimmbares Gefühl hielt mich davon ab, sofort nach dem Schiffer Nies zu fragen. Ich stieg zu einem Steg hinab, an dem einige nicht besonders vertrauenerweckende Bootsleute herumlungerten, wartete, bis sie mit ihrer stummen Musterung fertig waren, und forderte dann einen von ihnen auf, mich zur Van Dengsterstraat zu bringen.

Er erbleichte, sah mich einen Herzschlag lang wie einen Verrückten an, spie wortlos seinen Priem ins Wasser der Gracht, sprang in seinen Kahn und ruderte wortlos davon.

Der nächste Schiffer, den ich fragte, machte erschrocken das Kreuzzeichen.

Dem Dritten, der gerade anlegte, fielen vor Schreck die Riemen aus der Hand.

Und so weiter.

Nies sah aus wie ein alter Pirat, dem es auf das eine oder andere Menschenleben nicht ankommt. Sein Gesicht war eine Ruinenlandschaft aus Narben und tiefen, von Salzwasser und Wind eingegrabenen Linien, und der Blick seiner eng beieinanderstehenden, trüben Augen ließ mich innerlich frösteln.

Trotzdem wurde auch er kreidebleich, als ich ihm mein Fahrziel nannte. Erst nach einem tüchtigen Schluck aus dem Geneverkrug, den er unter seiner Sitzbank stehen hatte, faßte er sich wieder so weit, daß er »Macht zehn Gulden« murmeln konnte.

Für einen Moment wußte ich nicht, ob ich aus der Haut fahren oder ihn schlichtweg auslachen sollte. »Wie bitte?« fragte ich. »Sagten Sie - zehn Gulden, Mijnheer? Bei allem Verständnis, aber dafür kann ich ja Ihren Kahn kaufen.«

»Sie können ja wieder aussteigen!« antwortete er mit einer Stimme, der ich anmerkte, daß ihm das wirklich das Liebste gewesen wäre. »Vielleicht schwimmen Sie lieber hin. Oder Sie zahlen fünfzehn Gulden.«

Ich ächzte. »Fünfzehn? Gerade waren es noch zehn!« begehrte ich auf.

Nies schüttelte mit steinerner Miene den Kopf. »Sie irren sich, Mijnheer. Gerade waren es zwanzig. Jetzt sind es fünfundzwanzig.«

Ich starrte ihn an, schluckte die Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, herunter, und beeilte mich, zustimmend zu nicken und ihm zuzulächeln, als hätte er mir eine Freude gemacht - ehe sein Preis eine Höhe erreicht hatte, für den ich die komplette Van Dengsterstraat kaufen konnte. Eine unbestimmte Ahnung sagte mir, daß ich selbst für die zehnfache Summe keinen zweiten Bootsmann finden würde, der mich zur Van Dengsterstraat fahren würde.

»Abgemacht«, murmelte ich.

Nies sah mich mit zusammengekniffenen Lidern an, musterte mich noch einen Herzschlag lang mit gierigem Blick, dann löste er die Kette, mit der der Kahn am Ufer befestigt war, und lenkte ihn mit gemächlichen Ruderschlägen in die Gracht hinaus.

Das Boot gefiel mir noch weniger als sein Besitzer, so alt und morsch war es. Verfaultes Bilgenwasser schwappte auf seinem Boden hin und her und spritzte auf meinen Mantel. Ein Tropfen streifte meine Wange. Ich wischte angewidert mein Gesicht ab und sah dann auf die Gracht hinaus. Der Dreck, der am Ufer lag, die verrotteten Fischerkähne und schmierigen Hausboote rechts und links und der Gestank, der vom Wasser hochstieg, zeigten deutlich, daß wir in kein sehr vornehmes Viertel dieser Stadt hineinfuhren. Trotzdem hätte ich nicht so angeekelt sein dürfen. Es war eine Gegend wie diese, in der ich aufgewachsen war und die meisten Jahre meiner Jugend verbracht hatte. Und es war noch nicht einmal sehr lange her ...