Wir kamen an einigen halbverfallenen Häusern vorbei und bogen schließlich in eine schmale Gracht ein, die auf beiden Seiten von hohen, grauen Mauern eingeschlossen war. Ich fühlte eine seltsame Anspannung, die jedoch nicht aus mir selbst kam, sondern irgendwie von diesen Wänden ausging. Häuser können im Lauf der Zeit Eigenleben entwickeln, ähnlich wie alte Bäume und gewisse Landschaften. Doch das, was ich hier wahrzunehmen glaubte, ging weit über jedes normale Maß hinaus, und es bedeutete nichts Gutes. Für einen Moment verglich ich das Gefühl mit dem finsteren Hauch, der das Haus meines Vaters am Ashton Place in London umgab, den Odem der Magie und verbotenen Macht, der sich in seinen uralten Mauern eingenistet hatte.
Aber der Vergleich stimmte nicht. Das hier war etwas anderes. Etwas ganz anderes.
Ich roch förmlich das Böse hinter dem Moder, der aus den schief in den Angeln hängenden Fenstern herauswehte, den unsichtbaren Griff dunkler, dräuender Mächte, als blickten die glaslosen Fensterrahmen beiderseits der Gracht wie erloschene Augen auf den Fremden herab, der sich in ihren Machtbereich verirrt hatte. Unwillkürlich stand ich auf.
Dabei übersah ich, wie das Boot auf eine niedrige Brücke zufuhr und knallte mit dem Kopf unsanft gegen die Steine. Als ich wieder mehr als kreisende Sterne vor meinen Augen sehen konnte, fand ich mich in der fauligen Brühe zwischen den Spanten wieder. Heute war wirklich nicht mein Glückstag.
Spott funkelte aus den Augen des Schiffers, als ich auf die Knie kam und meinen schmerzenden Schädel betastete.
»Sie hätten mich ja auch warnen können!« murmelte ich. »Oder ist das zuviel verlangt für fünfundzwanzig Gulden?«
Nies grinste, sagte ungerührt: »Dreißig« und brachte den Kahn mit ein paar kräftigen Ruderschlägen neben der Brücke zum Halten. Erneut schluckte ich die wütende Antwort, die mir auf den Lippen lag, herunter. Nies hätte ohnehin nur mit »Fünfunddreißig« oder »Vierzig« geantwortet.
»Dort ist die Van Dengsterstraat«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor und deutete mit dem Daumen nach vorne. Ich nickte ärgerlich, streifte den Dreck von meinem Mantel und meiner Hose, so gut es ging, und stieg ans Ufer.
Nies wartete stumm, bis ich ihn bezahlt hatte, dann stieß er seinen Kahn ab und legte sich so wild in die Riemen, daß sich die Schäfte bogen. Er ruderte nicht einfach davon, er floh.
Nachdenklich sah ich mich um. Die Van Dengsterstraat wirkte wie eine Scharte, die ein Riesenschwert in die düsteren Mauern geschlagen hatte: finster und hart, mit scharfen, wie mit wütenden Messerstrichen gezogenen Kanten und Linien; finster. Ich suchte vergebens nach einem Stück blauen Himmels über ihr. Ich war in eine höhlenähnliche Schlucht geraten, in die sich seit Jahrhunderten kein Sonnenstrahl mehr verirrt hatte.
Von den meisten Häusern war der Verputz abgeblättert.
Einige der alten Bruchsteinmauern waren unter ihrem Gewicht zusammengestürzt und nur notdürftig repariert worden, und auf der Straße türmte sich der Schutt. Es stank nach menschlichen Ausscheidungen und Fäulnis, und an einer Wand lag der halbverfaulte Kadaver eines dürren Hundes.
Ganz langsam begann ich zu begreifen, warum außer Nies niemand bereit gewesen war, mich hierher zu bringen. Die Straße war nicht nur eine Beleidigung für Auge und Nase, sie schien mir ein wahres Paradies für Straßenräuber zu sein. Ich bedauerte, zu meinem Stockdegen nicht noch einen Revolver mitgenommen zu haben. Doch es war zu spät, sich jetzt noch anders zu besinnen. Also faßte ich meinen Spazierstock fester und trat beherzt auf die erstbeste Tür zu. DeVries hatte mir zwar den Straßennamen, nicht aber die Hausnummer gesagt, bevor er starb. Geschweige denn, wonach ich suchen sollte.
Nun - sehr viele Bewohner konnte diese Straße kaum haben - sah man von Kakerlaken und Ratten ab.
Auf mein Klopfen hin hörte ich es drinnen rascheln. Heisere, zischende Stimmen erklangen hinter blinden Scheiben, irgend etwas polterte, dann brüllte jemand zornig und in einer Sprache, die ich nicht verstand. Doch niemand machte mir auf.
Ich schaute durch ein mit zerrissenem Papier notdürftig abgedecktes Fenster und glaubte noch, eine Bewegung im Hintergrund zu erkennen. Dann war alles still. Verwundert klopfte ich noch einmal und ging dann weiter zur Nachbartür.
Der Erfolg war der gleiche.
Mit ständig sinkender Hoffnung wanderte ich die Van Dengsterstraat hinab, im Zickzack, immer von einer Straßenseite zur anderen wechselnd, um nur kein Haus und keine Tür auszulassen. Mein Zorn auf DeVries wuchs. Vielleicht hatte er mich doch belogen; vielleicht hatte er mir diese Adresse sogar absichtlich genannt, damit ich in dieser zweifellos von Dieben und Mordsgesindel bewohnten Gegend ums Leben kam und er sich so nach seinem Tode an mir rächen konnte. Schließlich erreichte ich ein Haus, das nicht ganz so verfallen und heruntergekommen aussah wie die anderen Ruinen, die die Van Dengsterstraat zierten; was nicht hieß, daß es etwa in gutem Zustand gewesen wäre.
Es befand sich ganz am Ende der Straße und lehnte, ein wenig schräg, als hätte es nicht mehr die Festigkeit, aus eigener Kraft zu stehen, an der graubraunen Ruine des Nachbargebäudes. Es war das letzte Haus der Straße, und nachdem ich überall vergeblich geklopft hatte, hatte ich kaum noch Hoffnung, hier Erfolg zu haben.
Trotzdem - ich mußte es versuchen. DeVries hatte die Wahrheit gesagt, ehe er starb. Das, was ich suchte, war hier, in dieser Straße, in irgendeinem der heruntergekommenen Rattennester, die einmal von menschlichen Wesen bewohnte Häuser gewesen waren.
Nur, daß ich selbst nicht genau wußte, wonach ich eigentlich suchte ...
Mit gemischten Gefühlen stand ich vor einer breiten Freitreppe aus weißem Carrara-Marmor mit vergoldetem Geländer. Über der ersten Stufe wölbte sich ein Torbogen aus zwei Schlangen, deren Schwänze und Köpfe miteinander verflochten waren. Am oberen Ende prunkte eine mit filigranhaften Bronzebeschlägen geschmückte Tür.
Treppe und Tür gehörten zu einem wuchtigen Patrizierhaus in altertümlich holländischem Stil, das in dieser schäbigen Gegend ebenso verfehlt wirkte wie ein Hilfsmatrose in einem feinen englischen Club. Früher einmal mußte dieses Haus eine prachtvolle Villa gewesen sein; das sah man ihm auch nach den vielen Jahrzehnten noch an. Es schien einen unsichtbaren Flair von Zeitlosigkeit und Anmut auszustrahlen; trotz der abblätternden Farbe und der zerborstenen, schräg in den Angeln hängenden Läden, hinter denen grau gewordene Scheiben wie getrübte Augen das Licht der Sonne aufsaugten.
Ich hatte das Haus erst gesehen, als ich genau davor stand, dessen war ich mir sicher. Dabei war ich jedoch mit Sicherheit in keine Nebengasse der Van Dengsterstraat abgebogen. Und an eine Kurve konnte ich mich auch nicht erinnern. Verwirrt drehte ich mich um und sah zur Gracht hinab. Die Straße führte wie mit dem Lineal gezogen genau auf die Brücke zu, bei der mich Nies abgesetzt hatte.
Wieder ein Rätsel; keines, das mir diese unheimliche Gegend sympathischer machte. Doch obwohl ich mehr Widerwillen denn je empfand, stieg ich die Treppe empor und betätigte den löwenköpfigen Türklopfer. Vielleicht fand ich hier endlich Leute, die mir einen Hinweis auf das Haus geben konnten, in dem ich das geheime Quartier der Templer vermutete.
Schon nach wenigen Sekunden waren Schritte zu vernehmen. Die Tür schwang auf, und ein livrierter Lakai steckte seinen Kopf heraus. »Womit kann ich dienen, Mijnheer?« fragte er.
Ich war über diesen plötzlichen, nach all den Enttäuschungen schon unerwarteten Erfolg derart überrascht, daß ich einen Moment stotterte, ehe ich wieder Worte fand.
»Verzeihen Sie die Störung«, sagte ich. »Ich ... ich suche einen Bekannten, der irgendwo in dieser Straße wohnt. Aber ich kann leider sein Haus nicht finden.« Und ich nannte ihm den Namen des umgekommenen Templers und beschrieb sein Äußeres, so gut ich konnte. Dabei behielt ich ihn genau im Auge. Aber sein blasiertes Gesicht zeigte keine Regung. Entweder hatte er den Namen DeVries wirklich noch nie zuvor in seinem Leben gehört - oder er war der beste Schauspieler, der mir je untergekommen war.