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Hermann, der Setzer (einer von fünfen), taut am Ende der Woche auf, aber er hat auch ein Anliegen.

«Fräulein Schuller«, sagt er. Sie grinst. Er zögert.

«Hewwet Se a guade Underkunft g’funde?«

Er tut sich wirklich schwer. Seine Schwester habe in der Vorstadt eine Einliegerwohnung, klein aber fein. Sie sei im Moment» net dahom«, habe» g’sundheitlich Probleme, gell?«, und Marleen könne, wenn sie wolle, die Wohnung haben. Zum halben Preis.

Marleen grinst nicht mehr. Sie fragt sich, wie man es höflich zum Ausdruck bringt, dass sie aus der Krankheit einer anderen keinen Vorteil ziehen möchte. Sie druckst herum. Da wird Hermann deutlicher.

«Mei Schweschder, gell, die krebst halt sou am Minimum rum. S’is scho schwierich, so a Wohnung z’halde, wenn mr net schaffe kou. «Jetzt versteht Marleen. Sie zahlt die Hälfte der Miete und hilft so der Kranken, ihre Heimstatt nicht zu verlieren. Am selben Abend zieht sie ein. Sie stellt sich den Eigentümern vor, die obendrüber wohnen. Sie hält die Kuckucksuhr an. Sie saugt den Teppichboden. Telefon ist vorhanden, aber abgemeldet. Sie zieht den Vorhang auf. Die Fensterfront öffnet sich auf eine versenkte Terrasse, der getrimmte Rasen auf Augenhöhe darüber. Sie bekommt auch das Fahrrad von Hermanns Schwester, acht Minuten sind es damit bis zu Volpe. Ihr stehen die Haare zu Berge, wenn sie durch das Stadttor radelt, in die Gutenberg’sche Zeit.

Vergeblich hatte sie gehofft, einige Bände aus der Eigenen Bibliothek geschenkt zu bekommen; in Hermanns Schwesters Wohnung fand sich nur Schund. So blieb sie bei 1984, das ihr gefiel, weil sie darin Poona wiederzuerkennen meinte, nur dass Poona die Leute mit Liebe geködert hatte, während die Liebe in Ozeanien ausgelöscht werden sollte. Marleen las, wie Winston Smith das Hurenviertel aufsucht, das letzte Refugium der Triebe, und auf dem Rückweg das Antiquariat Charringtons wiederfindet. Diese Seiten las sie mehrfach und ließ dann den Roman liegen, aufgeklappt, die Schrift nach unten. Die Kuckucksuhr setzte sie wieder in Gang.

Weil Mädchen immer sorgfältig seien und in der Schule so schön aufpassten, könne man sie zum eiligen Korrekturlesen heranziehen, glaubte Steidle. Kapitel vierzehn und fünfzehn der laufenden Produktion waren zu spät fertig geworden, um sie zur Korrektorin zu schicken. Das widerfuhr Marleen am fünften Tag: Sie brauchte eine Stunde für die elf Seiten des vierzehnten Kapitels und stellte dann fest, dass unter der umständlichen ausgeführten Kapitelnummer XV eine Lücke klaffte, wie sie sich ausdrückte, also nur sieben Textzeilen standen statt acht. Steidle behauptete, die Illustration der XV sei der Zeichnerin so viel leichter geraten als die anderen Zahlen, also habe man absichtlich einen größeren Abstand zum Text gewählt; aber das sagte er nur, um seine Verwunderung über Marleens schneckenhafte Lesegeschwindigkeit zu kaschieren. Verärgerung hätte es auch sein können, das ging aber nicht, weil er das Mädchen inzwischen doch sehr gern hatte. Er gurgelte ihren Namen auf der ersten Silbe und ließ die zweite fallen. Es klang wie» Marle«.

Zur Strafe, auch wenn es nicht so ausgedrückt wurde, musste sie die elf Seiten des vierzehnten und die neun Seiten des fünfzehnten Kapitels zur Korrektorin nach München faxen, deren Gerät nicht alles nahm, was man schickte, so dass die nagelneue Panasonic in Nördlingen immer wieder auf» Wahlpause «schaltete; jeweils nach dem dritten Versuch gab sie auf. Die telefonische Nachfrage, was angekommen sei, war nur möglich, wenn das Münchner Faksimilegerät stillstand, weil die Korrektorin aus Sparsamkeit nur eine Telefonleitung unterhielt. So dauerte allein die Übermittlung der zwanzig Seiten anderthalb Stunden, und» Marle «musste am Abend länger bleiben, um den Rücklauf der Korrekturen abzuwarten. Steidle gab ihr ein Exemplar der jüngsten Neuerscheinung und fragte sie, wieder gefasst, ob sie darin auch typografische Fehler finden würde. Mit einer Detailreparatur an einer Setzmaschine beschäftigt, konnte er ihr über die Länge des Raums aus dem Augenwinkel zusehen, wie sie in den Viktorianischen Ausschweifungen blätterte. Sie fand durchaus Unregelmäßigkeiten, nur drei auf vierhundert Seiten, aber schwer zu widerlegen, so dass Steidle im Stillen beschloss, ihr die Kontrolle des Umbruchs anzuvertrauen, solange sie blieb. Offenbar hatte die Lupen in den Augen. Zum späten Feierabend durfte Marleen das Buch mit nach Hause nehmen. Die Kuckucksuhr schlug neun, als sie in ihr semi-subterranes Schlafzimmer trat, der Rasen wie grünes Leuchten am Horizont. Eine Postkarte von Cristina:»Hey Marleen, was macht die Bleivergiftung? Komme nächste Woche Dich retten, Dein Schwesterherz«.

Die unverbrüchliche Schwesternschaft ging zurück auf den Oktober 1974, als Papa Schuller orangeberockt aus Indien vermeldet hatte, er müsse in der Entspannung sein Glück suchen. Kaum war er weg, bezog Johanna, die älteste der Schwestern, das Arbeitszimmer des Vaters. Drei Tage war ein Loch dort, wo Johannas Bett gestanden hatte, und als Cristina einzog, stellte sie ihres andersherum auf. Während Johanna und Marleen von Kopf zu Kopf gesprochen hatten, sprach Cristina zum Fußende von Marleens Bett, und Marleen freute sich, wenn sich jenseits der Bettdecke Cristinas Füße zeigten, geschmeidig und fest wie Handschmeichler, mal weiß und dann wieder bräunlich getönt, die Zehen wie die Köpfe einer Familie im Kasperletheater. Manchmal, um sich in den Schlaf zu wiegen, stellte Marleen sich vor, sie wären unterwegs auf einem langsam sich drehenden Karussell, die Gondeln in leichter Schräglage schwebend, und der Gedanke, wie dabei ihre Positionen wechselten, mal Cristina dort und dann sie selbst, beruhigte sie in einer Weise, dass sie Papa vergaß und dann hinüberglitt in die Traumlandschaft.

Johanna verkörperte, was Marleen erst werden sollte. Blickte Marleen zurück, konnte sie an Cristina sehen, was ihr selbst geschehen war. Cristina hatte schon damals diese florentinischen Augen, feingepinselt, dunkel, aber ihre Haut war hell und verzeichnete jedes Haar, blondschimmernd zunächst und von einem Tag auf den anderen wie in Tinte getaucht, Unkraut, Farn und dann die Undurchdringlichkeit des Schamwalds. Sie hatte die Schwerelosigkeit von Aktmodellen, die nicht zögern, splitternackt am Jasmintee zu nippen.

Und so, wie im Traumkarussell Marleen sich drehte und Cristinas Platz einnahm, begann sie Cristinas Erscheinung, ihre evolutionäre Schönheit mit sich zu tragen wie einen zweiten Körper. Das schaute sie sich von der jüngeren Schwester ab: ein Lächeln mit einem Runzeln der Stirn. Wie man die Schultern spannte, also die Brüste nicht versteckte. Wie man nicht mit den Armen fuchtelte, wenn jemand guckte. So lernte sie, die Signale der Jungen zurückzuschicken, schon nicht mehr ganz Marleen, Marlina oder Cristleen, das Lechzen von Franz-Josef und von Wölfi leichter zu ertragen mit diesem nussschalenartigen Gleichmut.

Nicht die Ungeduld der Jungen als solche hatte ihr missfallen — die schwitzenden Handflächen und Erektionen beim Küssen, das gehörte wohl dazu —, sondern wie sie ihre eigene Angst verbargen. Sie wollten Mädchen betören, lähmen, knacken,»es «mitnehmen wie Diebesgut. Sie war froh, dass die Schulzeit vorbei war, das Gezischel am Vormittag und das Gefummel am Nachmittag.

Hermanns Schwesters Wohnung: Cristina hat ihren Baumwollschlafsack mitgebracht — beige-braune Karos blassrot eingefasst —, und legt ihn falsch herum aufs Bett. So kann Marleen, während sie 1984 liest, Cristinas Füße sehen, aus der Nähe sogar. Cristina derweil hat, wenn sie von ihrem Buch aufschaut, die Aussicht auf den Rasen, nicht viel mehr als eine flauschiggrüne Linie, auf der allerdings jetzt ein halber Mann mit einem Gartenschlauch unterwegs ist, der mittels einer kreisrunden Düse einen feinen Regen erzeugt. Die Viktorianischen Ausschweifungen bringen Cristina zum Kichern; Marleen macht» Mmh?«, aber bekommt keine Antwort.