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Später, am Holztisch in der großen Wirtschaft mit ihrem Geruch von Geschnetzeltem, Bier und Tabakrauch zögert Steidle, sich zu den Neusserinnen zu setzen, zumal er, das ist noch nie vorgekommen, Hermann im Schlepptau hat. Aber dann sind sie doch ein gutes Quartett, auch wenn die Mädchen viel zu jung sind, zu jung für den nahenden Krebstod von Hermanns Schwester, ein dunkles, beschwiegenes Thema, die Tischbeleuchtung vier rauchfarbene Ufos unter einem schmiedeeisernen Kreuz.

So ein Tisch will bestellt sein. Da werden steinschwere Teller aufgetragen, Gläser mit schweren Böden, zinkklimperndes Besteck und in der Mitte, schattenlos, steht eine Flasche Hauswein ohne Etikett, der natürlich der Neuen die Frage in den Sinn kommen lässt, wo man sich befinde, und es stellt sich wieder einmal heraus, dass es keiner oder jeder besser weiß. Glücklicherweise macht Cristina wie zuvor ihre Schwester den Fehler, Steidle zu fragen, ob er Schwabe sei, was einige Ausführungen möglich macht zum besonderen und unverwechselbaren Charakter der Hohenloher. Die Hohenloher werden verglichen mit den Schwaben, die Schwaben mit den Oberschwaben, die Oberschwaben mit den Alemannen, die Alemannen mit den Badenern, die man auch gern Badenser nennt, weil sie, die Badenser, das nicht leiden können, abgesehen von den schier unendlichen Möglichkeiten, all diese Landschaften und ihre eingeborenen Dickschädel abzusetzen gegen den planen Norden mit seinen» Fischköppen«, was Marleen und Cristina nur durchgehen lassen, weil es sie nichts angeht. Es stellt sich heraus, dass die Schwätzer am Holztisch, die so gern» wissad’r «und» waasch «sagen, sehr viel eben auch nicht wissen; der Unterschied von Rheinland und Ruhrgebiet ist ihnen nicht bekannt, und mit dem Niederrhein wissen sie gar nichts anzufangen. Sie hören auch nicht zu, wenn Cristina es erklärt, sie starren ihr stattdessen in die Augen und auf den Mund und auf den Busen, was sie aber locker wegsteckt.

Nach dem Essen hampeln die Mädchen zu zweit auf dem Fahrrad von Hermanns Schwester durch die Altstadt. Marleen fährt einen Umweg, so dass sie vor der gewaltigen Fensterfront haltmachen können, hinter der grell erleuchtet die riesige vierphasige Druckmaschine nun, am Sonnabend gegen Mitternacht, stillsteht.

«Und da arbeitest du.«

«Nein, das ist die Beck’sche Druckerei.«

Von der Seite sieht Cristina ihre Schwester an, die nicht zurückblickt. Das hatte sie schon immer, dieses Gaffen und nichts sagen wollen.

Später geht es mit Hallo durchs Stadttor, der Hinterreifen könnte mehr Luft haben, Cristina wird das Profil des Kopfsteinpflasters auf den Po gestempelt. Sie rufen einander lustige Dinge zu über die schwäbischen Männer, wie sie sie nennen, aus Gemeinheit, denn dieser Hermann will unbedingt Franke sein, und der Steidle …

«Den sollten wir mal vernaschen!«, ruft Cristina.

Es schaudert Marleen, sie guckt vorsichtshalber geradeaus.

«Wie meinst du, wir?«

«Das ist doch der Traum der Männer, zwei auf einmal.«

«Glaubst du?«

«Das weiß doch jeder!«Gegacker.»Jede!«

Dann, Cristina hat sich ein altertümliches weißes Nachthemd mitgebracht, liegen sie wieder in der verkehrten Weise auf dem großen Bett und lesen in ihren Büchern. Bevor die Lichter gelöscht werden, erzählt Marleen von Winstons Abenteuern im alten London, seinem Versuch, Zeugnisse der Vergangenheit, seiner eigenen Erinnerung aufzutreiben:

«Und das Antiquariat ist im gleichen Viertel wie die Puffs. Erst geht er zu einer Hure, dann ins Antiquariat.«

Cristina blättert in den Ausschweifungen.»Für diesen Walter ist London damals schon eine vergangene Welt. Er sagt, die Freudenhäuser wären längst geschlossen gewesen oder abgerissen.«

Marleen:»Was ist das Älteste, was du kennst?«

Cristina:»Die Pyramiden, oder?«

Marleen:»Nee, was du selbst gesehen hast.«

Cristina:»Diese unterirdischen Mauern, die in Köln freigelegt wurden, als ich in der ersten oder zweiten Klasse war. Und was ist das Älteste für dich?«

Marleen:»Kannst du dich erinnern an ein Bild im Fotoalbum?«

Cristina:»Welches denn?«

Marleen:»Wir alle fünf vor dem Reihenhaus, Nummer hundertdrei. Oder hundertfünf. So richtig aufgestellt. Links noch so grade im Bild der Lancia.«

Cristina:»Der Alfa.«

Marleen:»Dann kannst du dich erinnern?«

Cristina:»Ich weiß, dass wir einen Alfa hatten, keinen Lancia.«

Marleen:»Ist doch egal. Kannst du dich erinnern?«

Cristina:»In Schwarz-Weiß?«

Marleen, enttäuscht:»Ach was, in Farbe.«

Cristina:»Weißt du was, ich gucke mir nie Fotoalben an. Und niemals sind Fotos das Älteste, was man gesehen hat.«

Marleen:»Mh.«

Cristina:»Hä?«

Marleen:»Irgendwie doch.«

Und während von Cristina nichts mehr kommt, schläft Marleen ein. Eines von hundert Gesprächen zwischen den Schwestern aus der Pomona: Sie finden statt, um andere Gespräche zu verhindern. Das Ziel ist zu schlafen und nicht zu weinen. Das spart Cristina sich auf für den nächsten Tag.

Markise

Am Sonntag war es gelungen, eine Pumpe aufzutreiben und ein zweites Fahrrad zu leihen. Die Schwestern fuhren aufs Land, wo sie sich auf einer Apfelbaumwiese niederließen, die Früchte schon gut zu sehen, die Stadt Nördlingen in der Ferne wie ein blasser Kupferstich. Cristina behauptete nun, dass sie sich erinnere, aber nicht an das Bild vor dem Reihenhaus, sondern an die Situation selbst; der Architekt aus Düsseldorf habe die Kamera bedient. Vielleicht sei dies sogar ihre erste Erinnerung, oder ihre älteste, falls Marleen dies gemeint habe.

Marleen wusste nicht mehr, was sie in der Nacht zuvor gemeint hatte, aber sie nutzte die Gelegenheit, mit Cristina einzutauchen in jene Zeit, in der zwei Autos vor der Tür gestanden hatten, die Kinderrotte allgegenwärtig, die Kommunion noch fern; Johanna die tolldreiste Anführerin; die Geburt des Bruders wie Weihnachten; alle vor dem Fernseher, als Ulrike Meyfarth wie ein Lasso über die Latte setzte: in Farbe, definitiv. Der Wind wehte aus Düsseldorf, Geld und Visionen, man segelte schneller als die anderen. Dann jahrelanges Schweigen über das Wegbleiben des Vaters,»weil es nichts bringt«, wie Johanna beschlossen hatte — mit zwölf —, und der Mama war es recht, oder zumindest schien es so.

Marleen:»Jedenfalls ist er für … für eine große Sache abgehauen. Nicht für eine andere …«

Cristina:»Woher willst du das wissen. Denk an die Bilder aus … Puma, oder wie das hieß.«

Marleen grinst.»Manchmal denk ich, wir waren doch blöd, und wir hätten alle hinterherreisen sollen.«

«Marleen, so ein Quatsch. Das war … Das ist eine total durchgedrehte Kommune oder Sekte oder was, alle total fixiert auf diesen Dingsdayogi. Kannst du dir das vorstellen, Mama in orangen Klamotten …«

Marleen:»Wir alle.«

Cristina:»Da kann man mal sehen, dass die Entfernung von der Kirche ernsthafte Dachschäden anrichtet.«

Marleen:»Wieso, vielleicht hätten wir die ja aufgemischt. Die Sekte wollte nicht unseren Papa, sondern den Medientyp aus der Eins-A-Agentur, seine Promotionideen, seine Kohle — und dann steht die ganze Familie da in Orange und …«

Cristina:»… wird nicht einmal reingelassen.«