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Zwei Nächte waren genug, um Mailand zu einem Traum in Technicolor auszuspinnen, die Reifen glitten wie Zungen übers Straßenpflaster, die Bartresen glichen Terminals, Toiletten wie Marienschreine, Hemden in Fenstern und Fenster in Hemden. Als hätte man alle Städte in eine gezwängt: das klapprige Paris, das rissige Prag, das feierliche Kopenhagen und Düsseldorf, die Urstadt. Westen, deren Spitzen zu den Bügelfalten zeigten; lederbesohlte Schuhe mit langen Nasen auf modernen Teppichen; Perlen wie Salamander kriechend in Rüschen; messingglänzende Turmfrisuren unter gedimmten Lüstern; Brillen wie die Scheiben in der Formel II. Am Morgen wachte sie zu früh auf, mit Herzklopfen, neben dem Bett ein Stapel italienischer Bücher aus Mailand, Turin, Bologna, Rom, in denen sie blätterte. Unregelmäßigkeiten im Druckbild bei den Taschenbüchern fielen ihr auf. Die Formate der gebundenen Bücher schienen etwas aufgeblasen. Verlagslogos waren wie aus Stein gehauen, die Titelillustrationen greller als zu Haus. Interessant! Wer sagte, dass man sein Leben in Deutschland verbringen musste. Dann schlief sie wieder ein, und es fiel eine weitere Sendung Milano Goldstaub auf die Träumerin, bis Signora klopfte.

Marleen hatte vergessen, ihren Wecker mitzunehmen, Wiederholung der Szene um halb drei, wenn die Mittagspause endete. Der Bücherkoffer blieb über Mittag an der Rezeption des Grand Hotel. Am Abend schleppte Marleen ihn mit zur Pension, packte die italienischen Bücher aus, ordnete die Exemplare aus der Eigenen Bibliothek so, dass sie nicht bestoßen werden konnten, und klebte Visitenkarten in ein Heft, das sie im Schreibwarenhandel erstanden hatte, wie auch den Klebestift mit dem schottischen Muster. Dazu kopierte sie ihre eiligen Notizen vom Tage. Es entstand, in leserlicher Schrift, ein komplettes Protokoll sämtlicher Begegnungen, ausgenommen Volpes Feierabend in Begleitung, eine schmale Lady auf smaragdgrünen Stilettos, die Volpe um einen halben Kopf überragte, wie Marleen sah, als sie am Ende der Galeria Vittorio Emanuele durch die großen Fenster spähte, die Szene an der Bar bestens vom Domplatz her erleuchtet. Auf dem marmornen Tresen standen weiße Teller mit Oliven, jede einzelne mit einem Zahnstocher aufgespießt, und eine Phalanx gemixter Getränke in den unwahrscheinlichsten Farben, aber da hatte sie sich schon abgewandt, denn Volpe nachzuspionieren war eine Aufgabe, die sie mit Sicherheit nicht hatte. Drei Abende verbrachte sie in Mailand allein, saß auf der Treppe der Oper, beobachtete schwarzgekleidete Frauen beim Beten im Dom und verschlang in einer Seitengasse Pizza mit Tomaten, Käse, Basilikum und eine Prise Einsamkeit, das war pittoresk und heroisch (gern hätten wir für sie die Zeit angehalten). Männern, die sie ansprachen, lächelte sie schmallippig zu und schüttelte den Kopf, als käme sie direkt aus einer lappländischen Holzfällerhütte.

Für Volpe musste der Besuch in Mailand anstrengend gewesen sein, denn er verbrachte die Strecke von Verona bis München auf dem Beifahrersitz, schlafend mit leicht geöffnetem Mund, wie Marleen fasziniert im Augenwinkel beobachtete, ansonsten brav die Autobahn im Blick, die Führung der Tunnelspuren, die launischen Lastkraftwagen, den Rollsplitt; der Rover wollte mit zarter Hand gelenkt sein, mit Umsicht beschleunigt, federleicht ausgebremst. Vor dem Brunnthaler Kreuz war Volpe wieder wach, dirigierte seine Fahrerin nach München auf den Ring über die Isar von Norden nach Schwabing hinein und schnippte mit der Hand, wo ein rostiger Ford ausparkte, dort fädelte Marleen den Rover ein, auf den ersten Versuch,»Das nenne ich Augenmaß«, sagte Volpe. Während sie neben ihm stand, leerte er eine riesige schwarze Einkaufstüte — zwischen dem vielen Seidenpapier: zwei komplette Dreiteiler —, und plötzlich war er gesprächig,

«Wir kleinen Männer bekommen doch nichts in Deutschland, dafür muss man nach Armaniland. «Die Anzüge ließ er auf dem kamelbraunen Teppich des Kofferraums liegen. Er öffnete den Koffer und stapelte die Bücher, ausgenommen doppelte Exemplare, in die Tüte, die er schließlich vorgebeugt von unten anhob, um sie dann Marleen, als wäre sie ein kräftiger Geselle, an die Brust zu drücken. So, mit zehn Kilogramm italienischer Literatur, die steife Kordel der Einkaufstüte über dem Kinn, erschien sie dann, Volpe gleich hinter ihr, an einer Tür ohne Namensschild, die im Halbdunkel von einer schmalen Frau geöffnet wurde, die sich bei Licht besehen als Mann herausstellte, mit echsenhaftem Antlitz und darin ein verspieltes, schnelles Augenpaar. Als Marleen die Tüte im staubigen Hausflur abgestellt hatte, gab der Mann ihr die Hand und stellte sich namentlich vor, was nicht wirklich nötig gewesen wäre, denn sie wusste, er war der Herausgeber der Eigenen Bibliothek.

«Habt ihr gut eingekauft?«, fragte der Herausgeber.

«An- und Verkauf«, sagte Volpe.»Der Gärtner, das Wasserzeichen, das Revolutionsjournal und die Fragmente unterschriftsreif, drei weitere ernsthaft nachgefragt, der Rest Bla-bla.«

«Wer macht das Wasserzeichen?«

«Einaudi.«

«Well done. «Und schon waren sie wieder draußen. Dennoch flatterte unter dem rechten Scheibenwischer ein verdächtiger Zettel.

«Wir haben en Knöllschen!«, rief Marleen.

«Aber verdient!«, rief Volpe zurück, der sich von München bis Nördlingen selbst hinters Steuer setzte und wieder die Schubertlieder spielen ließ.

An ihrer Wohnungstür fand Marleen eine Notiz in gestochener Handschrift:

«Sehr geehrtes Fräulein, aufgrund des Todesfalls möchten wir Sie bitten, die Einliegerwohnung bis zur Mitte der Woche zu räumen! Balduin Feßmann und Frau«.

Am Montag erschien Marleen vor acht Uhr in der Druckerei, aber Uli Steidle war schon da. Er begrüßte sie, ohne ihr in die Augen zu sehen. Hermann hatte, trotz Schwester, keinen Tag an der Setzmaschine versäumt, aber seine Trauer drückte auf die Stimmung der Belegschaft, so dass Steidle mit seiner Spaßlosigkeit nicht auffiel, Marleen aber begriff durchaus. Am Abend passte sie ihn ab, lehnte sich wie eine Degas’sche Tänzerin auf einen Stapel Druckbögen, fasste ihn kurz am Handgelenk und fragte, ob er Zeit habe, in der Wirtschaft mit ihr zu essen. Es schoss eine Röte in sein Gesicht; er sagte ja und wandte sich ab.

Uli ließ sich nicht einladen, aber betrunken machen schon. Sie gingen die Krankengeschichte von Hermanns Schwester durch, um des Tiefsinns willen, imitierten Gesten von Stammgästen, um gemeinsam zu lachen, erlaubten sich ein Geplauder über die Viktorianischen Ausschweifungen, um nicht prüde zu wirken, und schließlich skizzierte Marleen, wie absichtslos, die Tage in Mailand, ihre einsamen Spaziergänge durch die abendliche Stadt. Das stimmte Uli weich. Er hatte sein Fahrrad dabei, so dass es sich anbot, in der Sommernacht einen Blick in die Einliegerwohnung zu werfen, um die Mühen des Umzugs abzuschätzen, obwohl Marleens Hausstand nicht gewachsen war und insofern jede Logistik überflüssig. Zum Glück hatte Cristina am Deckenfluter den Dimmer entdeckt, so ein Pseudomond am Himmel der Souterrainwohnung kam gerade recht. Marleen überlegte, wann sie den Vorhang schließen sollte — sogleich war zu deutlich und später passte es vielleicht nicht —, aber dann war es ihr egal. Sie nahm Uli die Brille ab und strich über sein Gesicht, und sie fielen auf die indische Tagesdecke von grauroter Feierlichkeit mit bronzenen Ornamenten. Marleen achtete darauf, dass sie, als es so weit war, falsch herum zu liegen kamen, mit dem Kopf am Fußende, so als wäre sie weniger sie selbst und eher die Schwester, und sie freute sich an dem Bild, das sie sich, als schaute sie von der Decke herab, vorstellte: der schüchterne Hohenloher, halb blind, bis auf die Tennissocken nackt, die mörderische Versteifung des Junggesellen zwischen den Popacken des Mädchens. Armer Junge, er brauchte wirklich den helfenden Handgriff, knurrend wie ein Hund, dem man seinen Knochen nehmen will. Sie schloss den Vorhang erst, als Uli aus der Tür war, um Mitternacht.