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Während der Totenfeier ist Onkel Janka vollauf damit beschäftigt, den bereits austretenden Leichensaft aus Großpapas festgezurrten Mundwinkeln zu wischen. Es ist stickig, schwül. Nicht einmal die Birken vor den Fenstern schütteln ihr Laub. Es riecht nach Erbsen. Nach frisch gepflückten Erbsen und dem Saft unter der Hülse.

Tatsiana, Alezja und ich, wir bilden die erste Reihe hinter dem Sarg. In unserem Rücken geht die Großmama, aufrecht und starr, mit Marya im Arm, und Janka, Großmamas Onkel, der unablässig schnauft, jammert, sich die Nase putzt, über die Augen und das Haar mit seinem Feiertagstaschentuch wischt. Dahinter, wir können sie nurmehr erahnen, Vater, Mutter, auch Rasou, der sich, seiner Rauchwürste wegen, gern vor der Beerdigung gedrückt hätte.

Tatsiana, Alezja und ich. Wir ziehen uns wechselseitig zum Grab hin, wir folgen dem Sarg, in den man, der fortgeschrittenen Leberzirrhose wegen, zusätzliche Nägel schlagen mußte, um zu verhindern, daß die Gase im wasserprallen Körper die schwache Kiste sprengen. Aber es nützt nichts, rein gar nichts. Bei der Grablegung ächzt das Holz unter der Zweieinhalbzentnerlast, die Träger, auf sieben aufgestockt, straucheln, dem ersten rutscht prompt das Seil aus den Händen, rahursch, die Bretter sind längst gesprungen, als Großpapa unten aufschlägt.

Er war der Mann

Großpapa. Er war der Mann. Der Mann des Städtchens.

Fünfzehn Jahre war meine Großmama, als er sie zum ersten Mal schwängerte. Großmama, die Tochter seines besten Freundes Sándor. Die fünfziger Jahre gingen ihrem Ende entgegen. Chruschtschow, der Allesfresser, wollte sich Westberlin einverleiben, und in Budapest hängten sie Imre Nagy, Großpapas prominentesten Fürsprecher, als er kurz vor Ende des großen vaterländischen Kriegs erstmals sowjetischen Boden betrat. Als Vater zur Welt kam, trug der Alte noch immer Trauer um »seinen Imre« und traute dem Radiosprecher nicht, der verkündete, Nagy sei ein vom Westen gekaufter Verräter. Großpapa kannte Verräter, der war keiner! Und so polterte er: Das Kind könne selbstverständlich keinen anderen Namen als Imre tragen. Doch Großmama, mit der ganzen Kraft ihrer Jugend und dem Stolz auf ihre neue, ihre belarussische Heimat, rollte nur mit den Augen und setzte Mikola durch. Und der Alte, der jede Form von Nationalismus und Separatismus ebenso ablehnte wie einen kernigen Streit mit der Wöchnerin, schrieb den Namen in seinem Kopf um zu Nikalaj. Wenigstens das.

Mein Vater setzte alles daran, Großpapas Aufmerksamkeit zu erregen, aber er verstand einfach nicht, daß er dafür kein verklemmter Duckmäuser, der schon im Alter von vierzehn Jahren ein Depot mit Angespartem im Keller anlegte, sondern ein großer Sozialist hätte werden und sich den Namen »Roter Nikalaj« verdienen müssen.

Nächst dem Geld galt Vaters ganze Aufmerksamkeit den früh entwickelten Brüsten seiner Nachbarin Sweta. In unserer Familie ist Kindersegen immer eine Sache der Kinder selbst gewesen. Mein Vater war sechzehn, Mutter auch, als sie dem Alten in vorauseilendem Gehorsam einen Stammhalter, mich, schenkten; aber auch der Alte pflanzte sich noch zweimal fort, in Verachtung der Schwäche seines Leibes, auch ungeachtet der spöttischen Bemerkungen allenthalben, gönnte seiner Frau zwölf milde Winter, ließ sie mit fünfundvierzig noch einmal diesen einzigartigen Schmerz verspüren, um anschließend, gleichsam an ihrer statt, im Wochenbett zu sterben. Und was in anderen Ländern vielleicht Einzug in die Zeitungen gehalten hätte, hielt bei uns nicht einmal recht Einzug in die Köpfe. Geschweige denn in die Herzen.

Tatsiana war es, die irgendwann nach dem Tod des Alten damit begann, Stammbäume zu zeichnen. Angeblich für Marya. Ich glaube aber, in Wahrheit fürchtete sie einfach, die Übersicht zu verlieren.

Hier war sie also, unsere Familie:

Ich bin, was verdächtig nach einem toten Trieb links unten aussieht. Und er war es, der stets im Mittelpunkt stand: Großpapa István.

Er war der Mann. Der Mann des Städtchens, geboren am Tag und zur Stunde, als der russische Schachgroßmeister Tschigorin in Lublin starb. Von Lublin bis Budapest waren es 600 Kilometer, zu weit, um Tschigorins noch ziemlich munteren Geist in ihm zu reinkarnieren. Und so verpatzte Großpapa in unseren samstäglichen Schachpartien zähneknirschend eine Eröffnung nach der anderen.

Die Budapester Vorstadt, in der Großpapa aufwuchs, war damals so aufregend wie heute, nur daß sie weniger nach Abgasen stank. Meine Urgroßeltern waren Kleinbauern, wie alle; ein Klepper, mehr tot als lebendig, zwei Kühe, fünf Schafe, allabendlich Laub brennen. Rauch stieg, der Westwind verwirbelte ihn, und er zog ins Haus, bis in die frühen Nachtstunden. In der Dämmerung brannte es sich am schönsten, Großpapa und sein Vater hatten das Laub den Tag über im Garten gerecht. Großpapa liebte ihn über alles, den Moment, als die Flammen flügge wurden.

Als er alt genug war, schickte ihn meine Urgroßmutter zum Roten Sándor, dem Sohn ihrer Jugendliebe. Urgroßvater tobte, einen Monat lang, mehr aus Eifersucht denn aus politischen Bedenken, dann wurde er mitsamt Sándors Vater und den übrigen Reservisten der KuK-Armee eingezogen.

Der Rote Sándor gab Großpapa Unterricht in Sachen Herren und Knechte. Er lehrte ihn Lesen, mehr als die öffentliche Schule, weil Großpapa sie nur in den Monaten besuchte, wenn es nichts zu säen, zu jäten, ernten oder brennen gab. Großpapa las im Manifest, sollte die ersten zwanzig Seiten auswendiglernen, was er wenig widerstrebend tat, weil sein Kaff, trotz des großen Krieges, nicht aufregender geworden war. Sándor lehrte ihn, daß die Engländer etwas nicht inwendig, schon gar nicht auswendig lernten, sondern »by heart«, und daß der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts sei. Und schließlich lehrte Sándor ihn, daß das Gemetzel, das gerade bei Marmaros-Sziget zwischen Österreichern und Russen tobte, und das auch ihre Väter nicht überleben sollten, nur eine Wiederholung dessen war, was die Herren 1849 in Budapest, 1871 in Paris und 1905 in Petersburg angerichtet hatten, als sie auf ihre Knechte schießen ließen.

Nach den recht abgeschmackten KuK-Kondolenzbriefen brannte man seltener Laub. Aber immer öfter und lauter hörte man von dem kranken alten Kaiser in Wien sprechen, und von der großen Sache, die ausgerechnet bei den Russen schon Wirklichkeit geworden war. Und Sándor lehrte Großpapa Russisch. Oder das, was er dafür hielt.

Dann kamen der Oktober 1918 und die Budapester Arbeiter- und Soldatenräte. Aus seinem Moskauer Exil war Béla Kun zurückgekehrt, um die sozialistische Republik auszurufen, und der brauchte jeden Arm. Sándor zögerte keine Sekunde, spannte das Pferd vor den Wagen, und fuhr mit Großpapa, zwei weiteren Freiwilligen und einem nach Apfelessig riechenden Gewehr, das sie einen Tag lang geputzt hatten, und für das sie keine Munition besaßen, in die Stadt. Während sich die einen eine neue Ordnung und eine neue Verwaltung gaben, gaben sich andere einfach nur einen neuen Namen und eine neue Biographie. Großpapa wurde der Rote István. Man behandelte ihn wie einen Erwachsenen, einen Mann.

»Zehn Jahre und die Revolution. Danach braucht ein Mensch nicht mehr viel, um zu leben«, johlte der Alte, schlug mit der einen flachen Hand auf meinen Hinterkopf, mit der anderen auf den Tisch, und er richtete, trotz seiner Schmerzen, wieder einmal seinen Rücken auf.