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Als nur wenige Wochen später die Truppen des rumänischen Königs in der Hauptstadt einmarschierten, war Großpapa längst wieder nach Hause zurückgekehrt und hatte begonnen, seine abendlichen Feuer zu entfachen. Die Mutter hatte ihn angefleht: Die Felder lagen brach, und ohne Männer war es schrecklich einsam im Haus. So erlebte er nicht, wie Horthy und seine Milizen der Räteregierung mit weißen Handschuhen den Garaus machten, wie sie in die Menge schossen und die Pester Genossen im Frühnebel verscharrten, der wie ein zerschlissener alter Mehlsack über dem Donaustrand lag.

Großpapa hatte seinen alten Namen zurückerhalten und seine alte Biographie. War er nun also wieder der kleine István. Hatte sein kurzes revolutionäres Leben und seine jungenhafte Erinnerung. Das mußte genügen für lange Zeit.

Ein Jahr später kam auch der Rote Sándor wieder. Ausgezehrt, müde bis ins Herz hinein. Er sprach nicht, oder nicht mehr viel. Er hatte nichts mehr zu lehren und auch nichts zu lernen. Die beiden säten, jäteten und ernteten. Sie brannten Laub. Und weil ihre Familien nach dem Tod der Väter beschlossen hatten, den Haushalt zusammenzuwerfen, nährten sich Großpapa, Sándor und ihre Mütter zunehmend von Sándors jüngerem Bruder János, der noch nie Interesse an der Sache der Knechte gezeigt hatte, vielmehr mit Hingabe, by heart, verschacherte, was er an Gutem und Gehaltvollem zwischen den Dörfern aufzustöbern pflegte.

An einem klaren Februartag begann sein Leiden. Le grand mal. In Dresden kartätschte die SA Arbeiterführer nieder, und in Ungarn warf die Epilepsie Großpapa vom Kutschbock. Er blinzelte durch froststarrende Zweige in die Sonne, Hell und Dunkel kamen und gingen, und die weißen Baumkronen hieben wieder und wieder und wieder auf seinen Schädel ein, um sich seiner besten Erinnerungen zu bemächtigen. Auf dem Landstraßenpflaster zerplatzten die roten Schaumbläschen. Lange wurde er nicht gefunden. Er hatte Glück, daß sein dummer Gaul diesen Tags allein zu seinem Hafer zurückfand und so die Familie alarmierte. Für sie, die größer geworden war – János’ Geschäfte waren mittlerweile so erfolgreich, daß er sich ein kleines Weib zugelegt hatte –, wurde der István zur Last, weil man ihn nicht mehr auf den Markt schicken konnte. Auch das mußte János nun selbst übernehmen. Großpapa versorgte das Feld, so gut es ging, aber es ging immer öfter nicht mehr.

Einfacher war es, das Haus mitsamt dem kleinen Weib zu versorgen, denn bei János’ ununterbrochener Abwesenheit wollte und wollte sich kein Kind einstellen. Als es endlich doch soweit war, wußte niemand so recht, von wem es stammte, das Würmchen mit den drei dunklen Locken, aber als es, keine zwei Wochen alt, nach Phasen ununterbrochener Spasmen, abgelöst von leerer und letzter Apathie, an einem Hirnkrampf starb, schien auch das festzustehen. Es ging eben alles immer öfter nicht mehr.

Wenigstens rettete ihn sein Leiden vor der ins Haus stehenden Einberufung. Die Nächte von Reichsverweser Miklós Horthy wurden länger und schwärzer, zu diesen Stunden gedachte er Ungarns Pein, und wie übel er das ihm Anvertraute verweste; und da die Alliierten lustig auf das krumme kleine Ländchen zwischen Theiß und Drau pfiffen, versuchte Ritter Miklós, sich an die andere Seite ranzuwanzen. Wenig später tobte um Großpapa der Zweite Weltkrieg. Und nur um ein weniges leiser tobte János. Sein kleines Weib trug erneut einen Stammhalter unterm Herzen, diesmal ohne Mitwirkung von Großpapa, aber leider auch wieder ohne seine. Obwohl Sándor der Übeltäter war, entfloh Großpapa, des Streits überdrüssig, in die Hauptstadt. Dort sprach man immer offener davon, daß es mit den Deutschen zu Ende gehe. Und er, der seine Jahre in Gleichgültigkeit gegen Weiße wie Braune hingebracht hatte, schmeckte in der Stadt seiner jungenhaften Erinnerungen noch einmal den Frühling. Er wollte tun, was ein Epileptiker für den Umbruch tun konnte. Doch was er sah, das waren nicht die marschierenden roten Brigaden, was er sah, das waren die deutschen Maschinengewehre auf den Donaubrücken, und die deutschen Panzer auf der Burg, und er sah, wie ganz Ungarn sich, ohne zu zögern, in den Matsch warf.

Dann kamen die Pfeilkreuzler, Szálasis dreckiges Dutzend, die Söldlinge der Nazis. Sie begannen damit, die Juden zusammenzutreiben, und alles Volk, das auf der Straße war. Großpapa war auf der Straße.

Es waren zwei, ein alter und ein junger, noch viel zu klein für die Uniform, die er wie einen Mantel trug. Sie waren drauf und dran, ihn mit den anderen in die Donau zu schießen. In einem Hinterhof in Ferencváros rissen sie ihm die Hose herunter und sahen nach, ob da eine anständige Vorhaut war. Überzeugt hat sie der Anblick nicht. Der Junge brachte seine Mauser in Anschlag.

»Trägt aber keinen Stern«, sagte der alte Pfeilkreuzler.

»Eben, vorschriftswidrig, muß weg«, knurrte der Junge, während er nervös am Abzug fummelte.

»Habt ihr denn so viel Munition?« fragte Großpapa den Alten, während er die drei letzten amerikanischen Zigaretten herzeigte, die er aus János’ Vorräten gemaust hatte.

»Wär ich ein Jud’, hätt ich sicher keinen Stern getragen, aber wär ich dann auf die Gasse, um euch entgegenzugehen?«

Und um sein Selbstbewußtsein zu zeigen, hat der Großpapa zu singen begonnen: »Nyisd ki, babám, az ajtót – Öffne, Liebste, mir die Tür«, hat ein paar Tanzschritte angedeutet, und der Alte hat lachend, mit spöttischem Seitenblick auf den Jungen, mitgesungen, »Nein, das geht nicht, denn der Nachbar lugt herfür«, hat sich zwei Zigaretten hinter die Ohren gesteckt und die dritte angezündet, hat salutiert, dem Jungen von hinten gegen die Mütze geschlagen, und ihm den Weg zur Donau gewiesen. Und das hat Großpapa den Kopf gerettet. Das und die Tatsache, daß die Nazis nach einem solchen Tag keine Patronen mehr hatten. Und daß sein Leiden einmal, im rechten Augenblick, ausgeblieben war.

Dann schickten auch die Ungarn ihre Juden nach Auschwitz und zum Frontdienst ohne Waffe, und die Deutschen sprengten das Straßenpflaster von Budapest. Aber Großpapa war längst auf dem Weg nach Osten, wo die Pfeilkreuzler Dorf um Dorf an die Sowjets verloren.

Nur um Lebewohl zu sagen kehrte er zurück, von diesem Ungarn wollte er nichts mehr wissen, er wollte in die Sowjetunion, und er verfluchte sich selbst, weil er so lange damit gezögert hatte. Nur um Lebewohl zu sagen kehrte er zurück zu den Häusern, von denen nicht viel übriggeblieben war, nachdem deutsche Panzergranaten an ihren Fassaden gerüttelt hatten, und er fand keine der drei Frauen wieder. Nur die Brüder lebten, und mit ihnen Sándors Tochter Katalin. Katika. Großmama.

Als er den Heimkehrer fest in die Arme nahm, fand János, nach Tagen des Zerfließens in Reue und Selbstmitleid, in dem Maße wieder zu sich, in dem Großpapa zu seinem Leiden zurückfand. Allein zum Schachern fand János nichts, und das machte ihn wirklich unglücklich. Er erklärte, wenn der Russe zum Ungarn komme, sei Ungarn verloren, deshalb sei es besser, wenn der Ungar zum Russen gehe, und Sándor, die plärrende Katika auf dem Arm, schlug vor, noch rasch ein Schaf zu schlachten, es zu zerteilen, zu pökeln, und die Wurst eine Nacht über den Rauch zu hängen. Großpapa zuckte mit den Schultern, was soviel heißen sollte wie: In einer Nacht, mit etwas Tabak, Maiskolben und Selbstgebranntem im Gepäck, da kann man weit kommen auf den Viehzügen, die planlos in alle Richtungen rollen. Aber auf die Schafwurst wollte auch er nicht verzichten, und so mußte die Sowjetunion noch ein wenig warten.

Bis Eger aßen sie die Wurst und sahen Ungarndeutsche, die ihre Wehrmachtsuniformen im Wald vergruben. In Nyiregyháza tauschte János Mais gegen Zwiebelbrot. In Kisvárda war der Selbstgebrannte dran. Bei Záhony mußten sie auch an die Zigaretten gehen. In Ungvár, das Großpapa Uzhgarad nannte, bekam Katika Durchfall von einer Erbsensuppe, die János bei einem Bauern erbettelt hatte. Und als die vier, halb verhungert und halb verblödet von den bitteren Karpatenbeeren, endlich vor Barislaw standen, war es Mündungsfeuer der Roten Armee, das Sándor tödlich verwundete.