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Zeichen der Freiheit vor sich: den Geierberg, an dessen Fuß ihre heimatlichen Dörfer lagen.

Ich winkte Arnak, er möge das Ruder übernehmen, und lief zu Manauri. Von tiefem Gefühl übermannt, fielen wir uns nach Art der weißen Menschen in die Arme. Die Freude, die das Gesicht des Häuptlings ausstrahlte, machte ihn um vieles jünger; er sah jetzt kaum älter als zwanzig Jahre aus.

Gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. Sein Blick wurde fest, und als er sich neben mich setzte, lag ein Ausdruck zäher Beharrlichkeit auf seinem Gesicht, dessen Züge zugleich eine Bitte widerzuspiegeln schienen.

„Jan”, eröffnete Manauri feierlich das Gespräch. „Ich wende mich heute mit den gleichen Worten an dich wie vor einigen Tagen. Du erinnerst dich doch?”

„Sprich.”

„Wir wissen, wer du bist und wie du bist. Du bist unser Bruder, und wir alle hängen an dir. Nur dir verdanken wir unsere Rettung. Deine Erfindungsgabe und deine Schußwaffen haben die Spanier, unsere Verfolger, bezwungen. Deine Freundschaft hat uns dem Leben zurückgegeben. Du bist ein großer Krieger deines Landes. Zu den Deinen aber kannst du noch nicht zurückkehren, denn deine mächtigen Feinde könnten dich auch dort verfolgen. Deshalb bitten wir dich, alle, die wir hier sind: Bleibe bei uns. Bleibe für immer.”

Die Umstehenden unterstützten diese Worte durch freudigen Beifall.

„Ich danke euch allen herzlichst für die angebotene Gastfreundschaft, doch so leid es mir tut, ich kann sie nicht annehmen”, erklärte ich mit aller Entschlossenheit. „Ich kann nur solange bei euch bleiben, bis ich mit meinen Vorbereitungen für die Reise zu den englischen Inseln fertig bin. Kann ich dabei auf eure Hilfe zählen, Manauri?”

„Du bist unser Bruder”, antwortete der Häuptling, „wir werden tun, was immer du verlangst.”

Das verlassene Dorf

AIs wir den Geierberg entdeckt hatten, war er noch viele Meilen von uns entfernt. Erst Stunden später, kurz vor Sonnenuntergang, näherten wir uns seinem Fuß. Bis zum ersten Dorf der Arawaken, das an einer Lagune auf der anderen Seite des Berges lag, hätten wir bei günstigem Wind und guten Sichtverhältnissen noch zwei Stunden segeln müssen. Da aber der Wind immer mehr abflaute und die Dämmerung hereinbrach, blieb uns nichts anderes übrig, als so weit wie möglich an den Berg heran-zufahren und in der Nähe der Küste einen Ankerplatz für die Nacht zu suchen. Obwohl die Indianer hier jeden Meter des Meeresgrundes kannten, wollten sie lieber den Morgen abwarten und den Schoner bei Tageslicht in die Bucht einlaufen lassen. 

Als wir endlich vor Anker lagen, war es bereits dunkel geworden, nur die Sterne erstrahlten in mildem Licht. Außer den Kindern dachte niemand an Schlaf. Die Gedanken an den morgigen Tag hielten alle wach, die Indianer, die Neger und auch mich.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit hatten die Indianer Ausschau gehalten, ob Fischerboote oder sonstige Zeichen menschlichen Lebens auf dem Wasser oder auf dem Land zu entdecken wären; doch hatten sie ihre Augen vergeblich angestrengt.

„Das ist sonderbar”, vertraute sich mir Manauri an. „Ich erinnere mich genau, wie das früher war. Jeden Abend fuhren Fischer aufs Meer hinaus.”

„Sicher haben sie das auch heute wieder getan”, antwortete ich. „Dann müßten sie doch zu sehen sein.”

„Wahrscheinlich haben sie uns bereits entdeckt, bevor wir sie sehen konnten, und da sie den Fremden auf dem Schoner nicht trauten, haben sie ihre Boote in der Bucht in Sicherheit gebracht.”

„Sollte das möglich sein?’ Der Häuptling versank in Nachsinnen.

Die Menschen auf Deck hatten es sich gemütlich gemacht. Sie lagen oder saßen in Gruppen beisammen und unterhielten sich leise. Wenn sie schwiegen, konnte ein aufmerksames Ohr jeden Laut vom Festland her vernehmen, da das Ufer höchstens hundert bis hundertzwanzig Meter entfernt war. Außer den nächtlichen Stimmen aus dem Dickicht war in gleichmäßigen Abständen das träge Rauschen einer Welle zu hören, die langsam im Sand verrieselte. Wie ich mich noch bei Tageslicht überzeugt hatte, ähnelte das Buschwerk dem, das ich auf der Insel der Verwegenen kennengelernt hatte. Es war kein eigentlicher Wald, sondern hohes, trockenes, mit Stacheln übersätes Strauchwerk, aus dem die mir so bekannten Spitzen von Kakteen und Agaven hervorstachen und das hier und da von einer hochstämmigen Palme oder von einem anderen Baum überragt wurde.

Die nächtlichen Stimmen waren beinahe die gleichen, wie ich sie aus den Büschen meiner Insel vernommen hatte, nur drangen sie tiefer ins Bewußtsein. Sie erfüllten mein Herz mit unsagbar erregenden Gefühlen und entzündeten meine Phantasie Das konnte auch gar nicht anders sein, denn diese Laute klangen aus einem mächtigen, geheimnisvollen, irgendwo in der Tiefe des undurchdringlichen Urwalds verborgenen Land, wo die Wirbel großer Ströme tosten, wo unbekannte Stämme wilder Eingeborener hausten, wo die grausamen Spanier und Portugiesen Niederlassungen gründeten und allen mit unerbittlichem Schwert ihr „Recht” und ihren Glauben aufzwangen. Mit einem Wort, es waren die Stimmen eines Landes, das Unheilvolles verhieß und mit unbekannten Abenteuern und Gefahren drohte.

Manauri, Arnak und Wagura saßen in meiner Nähe. Da mich die Neugier plagte, wollte ich gern erfahren, was mir der nächste Tag bringen werde und welchen Menschen ich begegnen sollte. Ich begann daher Manauri über die arawakischen Siedlungen auszufragen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich erfuhr, daß es hier nur fünf arawakische Dörfer gäbe.

„Nur fünf? Mehr Dörfer gibt es nicht?” fragte ich ungläubig. „Nein, hier gibt es nur fünf Dörfer.”

„Die müssen aber sehr bevölkert sein.”

„In einigen leben viele Menschen, in anderen weniger. In meinem Dorf, das zu den größten gehörte, wohnten zu meiner Zeit ungefähr drei mal hundert Indianer.”

„Dreihundert Krieger?”

„Nicht doch! Insgesamt dreihundert: Krieger, Greise, Frauen und Kinder.”

„Und wie viele waren es in allen fünf Dörfern zusammen?” „Fast zehn mal hundert.”

„Mit Frauen und Kindern?”

„Ja, mit Frauen und Kindern.”

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen und sagte zu Manauri: „So wenige seid ihr nur? Du machst einen Scherz.”

„Nein, Jan, ich scherze nicht.”

„Das ist der ganze Stamm der Arawaken? Ich glaubte, ihr wäret viel stärker.”

„Du hast dich auch nicht geirrt. Unser Stamm ist viel stärker. Die Arawaken sind ein großes Volk, aber die meisten leben nicht hier, sondern weit im Süden, in einer Gegend, die Guayana genannt wird. Der Weg dorthin dauert über einen Monat.”

„Über einen Monat? Das wären ungefähr fünfhundert Meilen.” „Es können fünfhundert Meilen sein, vielleicht auch mehr. Um zu den Arawaken dort zu gelangen, muß man den großen Ibirinoko überwinden, und von da sind es noch viele Tagemärsche nach Süden bis zu den Siedlungen unseres Volkes.”

„Den Ibirinoko?”

„Ja, das ist die indianische Bezeichnung für den Fluß, den die Spanier Orinoko nennen.”

„So lebt hier nur ein kleiner Teil deines Volkes?”

„So ist es, hier lebt nur ein kleiner Teil.”

Im ersten Augenblick fühlte ich mich durch diese Nachricht beunruhigt, denn ich befürchtete, daß sich unter so wenigen Menschen nicht genügend mutige Seefahrer finden würden, die bereit wären, mich zu den englischen Inseln im Karibischen Meer zu bringen. Manauri aber erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, denn es gebe hier genügend Seefahrer, die mir helfen könnten.