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Die Mutter schüttelte den Kopf: "So ein großes Madchen läßt sich noch Märchen vorlesen."

"Ach, Märchen sind so abenteuerlich und so verzaubert und überhaupt so seltsam", erklärte Pünktchen. "Es ist geradezu ein Genuß!"

"Na ja", sagte der Vater. "Aber die richtige Lektüre vorm Einschlafen ist es gerade nicht."

"Direktor, weißt du, ich habe starke Nerven", behauptete das Kind.

"Schlaf gut, meine Süße", erklärte die Mutter. Heute trug sie silberne Halbschuhe und ein silbernes Hütchen und ein blaues Kieid mit lauter Spitzen.Pünktchen sagte: "Gut Naß!"

"Wieso?" fragte die Mutter.

"Es wird regnen", sagte das Kind. "Ich habe Rheumatismus im Nachthemd."

"Es regnet ja schon", meinte die Mutter.

"Da hast du's", sagte Pünktchen. "Ja, ja, mein Rheumatismus hat immer recht."

Herr Pogge fragte Fräulein Andacht, ob sie später noch weggehe.

"Wo denken Sie hin, Herr Direktor!" bekam er zur Antwort.

Als seine Frau im Wagen saß, sagte er: "Gib mir mein Billett. Ich habe die Zigarren vergessen. Fahren Sie voraus, Hollack. Ich komme mit einem Taxi nach."

Frau Pogge betrachtete ihren Mann neugierig und gab ihm ein Billett. Er winkle dem Chauffeur. Das Auto fuhr los.

Heir Pogge ging natürlich nicht in die Wohnung zurück. Er gehörte nicht zu den Männern, die ihre Zigarren vergessen. Er trat, dem Haus gegenüber, hinter einen Baum und wartete. Es war ja ziemlich albern, daß er sich von so einem Lausejungen Flausen einreden ließ. Und er schämte sich auch dementsprechend. Andrerseits hatte er schon seit Tagen ein so merkwürdiges. Gefühl in der Magengrube.

Kurzum, er wartete. Es regnete dünn. Die Straße war einsam. Nur manchmal sauste ein Auto vorüber. Herr Direktor Pogge konnte sich nicht entsinnen, jemals wie heute im Regen gestanden und auf etwas Geheimnisvolles gelauert zu haben. Er holte eine Zigarre aus dem Etui. Dann fiel ihm ein, daß glimmende Zigarren im Dunkeln äußerst verräterisch wirken, und er behielt sie unangezündet zwischen den Zähnen. Wenn ihn jetzt ein Bekannter träfe! Das konnte ein reizender Skandal werden. "Direktor Pogge steht abends vor seinem eignen Haus und spioniert", würde es heißen.

Er blickte nach den Fenstern hinüber. Im Kinderzimmer war Licht. Na also!

Da! Das Licht erlosch!

Wozu regte er sich eigentlich auf? Pünktchen war wahrscheinlich eingeschlafen, und das Fräulein war in ihr Zimmer gegangen. Trotzdem hatte er Herzklopfen. Er blickte scharf durch die Dämmerung zur Haustür hinüber.

Und da öffnete sie sich! Herr Pogge biß sich auf die Lippen. Er hätte beinahe die Zigarre verschluckt. Durch die halboffene Tür schlüpfte eine Frauengestalt und zog ein Kind hinter sich her. Die beiden bewegten sich in der Dunkelheit wie Gespenster. Die Haustür schlug zu. Die Frau blickte sich besorgt um. Herr Pogge preßte sich dicht an den Baum. Dann rannten die zwei stadtwärts.

Vielleicht waren es wildfremde Leute? Auf der anderen Straßenseite lief Herr Direktor Pogge hinter ihnen her. Er hielt die Hand vor den keuchenden Mund. Er trat in Pfützen, streifte Laternenpfahle, merkte kaum, daß der Strumpfnalter riß. Die zwei drüben ahnten nichts davon, daß sie verfolgt wurden. Das Kind stolperte und wurde von der dürren, großen Person weitergezerrt. Plötzlich blieben sie stehen. Kurz bevor die ruhige Straße in den Großstadtverkehr mündet.

Herr Pogge schlich auf den Zehenspitzen noch ein paar Meter waiter. Was geschah dort drüben? Er konnte nichts erkennen. Er hatte Angst, daß sie ihm entschlüpften. Er hielt die Augen aufgesperrt, ohne zu zwinkern, als könnten die beiden, wenn er auch nur sekuhdenlang die Lider senkte, vom Erdboden verschwunden sein.

Aber nein, die beiden Gestalten, die Frau und das Kind, traten aus dem Schatten der stillen Häuser und schritten den Bogenlampen der anderen Straße entgegen. Die Frau hatte sich ein Kopftuch umgebunden. Sie gingen sehr langsam, und das kleine Mädchen führte die Frau, als sei diese plötzlich krank geworden. Herr Pogge konnte ihnen, nun trotz des Menschenstroms, der hier durch die Straße trieb, bequem folgen. Sie steuerten, am Bahnhof Friedrichstraße vorbei, der Weidendamnier Brücke zu. Und auf der Brücke blieben sie, ans Geländer gelehnt, stehen. Es regnete noch immer.

Die elfte Nachdenkerei handelt:

Von der Lüge

Pünktchen belügt ihre Eltern, daran ist nicht zu wackeln. Und so nett sie sonst ist, daß sie lügt, ist abscheulich. Wenn wir sie jetzt hier hätten und sie fragten: "Du, schämst du dich denn gar nicht? Warum belügst du deine Eltern?" Was würde sie antworten? Sie steht zwar gerade auf der Weidendammer Brücke, und da dürfen wir sie nicht stören. Aber was würde sie sagen, wenn sie bei uns säße?

"Fräulein Andacht ist schuld", würde sie sagen. Und das wäre eine faule Ausrede.

Denn wenn man nicht lügen will, kann man durch keine Macht der Welt dazu gezwungen werden. Vielleicht hat sie Angst vor dem Kinderfräulein? Vielleicht hat die Andacht dem Kind gedroht?

Dann brauchte Pünktchen nur zu ihrem Vater zu gehen und zu sagen: "Direktor, das Fräulein will mich zwingen, daß ich euch belüge." Dann würde Fräulein Andacht auf der Stelle entlassen, und ihre Drohung wäre umsonst gewesen.

Es bleibt dabei: Pünktchen lügt, und das ist sehr unanständig. Wir wollen hoffen, daß sie sich, durch ihre Erlebnisse belehrt, bessert und das Lügen künftig bleiben läßt.

Zwölftes Kapitel

Klepperbein verdient zehn Mark und eine Ohrfeige

Herr Pogge stand an der Komischen Oper mitten auf der Straße und blickte angestrengt zur Weidendammer Brücke hinüber. Er sah, wie das Kind den Vorübergehenden die Hände entgegenstreckte und dazu knickste. Manchmal blieben Passanten stehen und gaben Geld. Dann knickste die Kleine wieder und schien sich zu bedanken. Er entsann sich der gestrigen Szene zu Hause. Pünktchen hatte im Wohnzimmer gestanden, die Wand angejammert und gesagt: "Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!" Sie hatte geprobt! Es war kein Zweifel möglich: Dort drüben stand sein Kind und bettelte! Ihn fror.

Er betrachtete die dürre, lange Person daneben. Natürlich war das Fräulein Andacht. Sie trug ein Kopftuch und hatte eine dunkle Brille vor den Augen. Er erkannte sie trotzdem.

Sein Kind stand in einem dünnen, alten Kleid auf der Brücke, ohne Hut, die Locken waren strähnig vom Regen. Er schlug den Mantelkragen hoch. Dabei bemerkte er, daß er noch immer die kalte Zigarre zwischen den Fingern hielt. Sie war völlig zerblättert, und er warf sie wütend, als sei sie an allem schuld, in eine Pfütze. Dann kam ein Schutzmann und wies ihn auf den Fußsteig.

"Herr Wachtmeister", sagte Herr Pogge, "ist es erlaubt, daß kleine Kinder abends hier herumstehen und betteln?"

Der Schutzmann zuckte die Achseln, "Sie meinen die beiden auf der Brücke? Was wollen Sie machen? Wer soll die blinde Frau denn sonst hierherführen?"

"Sie ist blind?"

"Ja freilich. Und dabei noch ziemlich jung. Fast jeden Abend stehen sie dort drüben. Solche Leute wollen auch leben." Der Schutzmann wunderte sich, daß ihn der Fremde ziemlich schmerzhaft am Arm packte. Dann sagte er: "Ja, es ist ein Elend."

"Wie lange stehen denn die zwei normalerweise dort?" "Zwei Stunden wenigstens, so bis gegen zehn." Herr Pogge trat wieder von dem Trottoir herunter. Er machte ein Gesicht, als wollte er hinüberstürzen, dann besann er sich und bedankte sich bei dem Beamten. Der Schutzmann grüßte und ging weiter.

Plötzlich stand Gottfried Klepperbein da, grinste übers ganze Gesicht und zupfte ihn am Mantel. "Na, was habe ich gesagt, Herr Direktor?" flüsterte er. "Habe ich Ihner zuviel versprochen?"

Herr Pogge schwieg und starrte über die Straße.

"Auf der anderen Seite der Brücke steht der Freund vom Fräulein Tochter", sagte Klepperbein gehässig. "Der bettelt auch. Aber richtig. Anton Gast heißt er. Der gehörte schon längst in Fürsorge."