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Sie sah Autos, Radfahrer, einen Schupo, eine Bettlerin mit einem Kind, einen Zeitungsverkäufer mit einen Schirm, der fünfer Autobus kam vorüber. Sie zuckte die Achseln.

Er faßte ihren Arm und führte sie vorsichtig der Brücke entgegen. "Gib auf die Bettlerin und das Kind acht", flüsterte er befehlend. Sie beobachtete, wie das kleine Mädchen Knickse michte, Streichhözer hochhielt und von Passanten Geld bekam. Plötzlich erschrak sie, sah ihren Mann an und sagte: "Pünktchen?"

Sie kamen noch näher. "Pünktchen!" flüsterte Frau Pog­ge und verstand nicht, was sie mit ihren eigenen Augen sah.

"Mutter ist total erblindet und noch so jung. Drei Schachteln fünfundzwanzig, Gott segne Sie, liebe Dame", sagte das Kind gerade.

Es war Pünktchen! Da lief Frau Pogge auf das im Regen frierende und knicksende Kind zu, kniete trotz der verregneten, schmutzigen Straße vor der Kleinen nieder und schloß sie in die Arme. "Mein Kind!" schrie sie außer sich.

Pünktchen war zu Tode erschrocken. So ein Pech zu haben. Das Kleid der Mutter sah skandalös aus. Die Passanten blieben stehen und dachten, es würde ein Film gedreht. Direktor Pogge riß der blinden Frau die Brille von den Augen.

"Fraulein Andacht!" rief Frau Pogge entsetzt.

Die Andacht war blaß wie der Tod, hielt schützend die Hände vors Gesicht und wußte sich keinen Rat. Ein Schutzmann tauchte auf.

"Herr Wachtmeister!" rief Herr Pogge. "Verhaften Sie diese Person hier! Es ist unser Kinderfräulein, sie geht, wenn wir nicht zu Hause sind, mit unserm Kind betteln!" Der Schutzmann zog das Notizbuch. Der Zeitungsverkäufer mit dem Regenschirm lachte.

"Nicht einsperren!" rief Fräulein Andacht. "Nicht einsperren!" Mit einem Sprung durchbrach sie den Kreis der Menschen und rannte gehetzt davon.

Herr Pogge wollte ihr nach. Aber die Leute hielten ihn fest.

"Lassen Sie das Mädchen laufen!" sagte ein alter Mann. Frau Pogge war aufgestanden und putzte mit einem Spitzentuch ihr seidenes Kleid ab, es war furchtbar dreckig.

Da tauchte Anton von der anderen Straßenseite her auf und legte Pünktchen die Hand auf die Schulter. "Was ist denn hier los?" fragte er.

"Meine Eltern haben mich erwischt", sagte Pünktchen leise, "und die Andacht ist eben durchgebrannt. Das kann gut werden."

"Wollen sie dir was tun?" fragte er besorgt.

"Das ist noch nicht raus", meinte Pünktchen achselzukkend.

"Soll ich dir helfen?" fragte er.

"Ach ja", sagte sie. "Bleibe hier, das beruhigt mich."

Herr Pogge sprach mit dem Schutzmann. Seine Frau putzte noch immer an dem teuren Kleid herum. Die Leute, die dabeigestanden hatten, gingen wieder ihrer Wege. Da blickte Frau Pogge auf, sah, daß sich ihre Tochter mit einem fremden Jungen unterhielt, und riß das Kind an ihre Seite. "Gleich kommst du zu mir!" rief sie. "Was stehst du mit dem Betteljungen zusammen?"

"Nun schlägt's dreizehn", sagte Anton. "So fein wie Sie bin ich schon lange. Daß Sie es nur wissen. Und wenn Sie nicht zufällig die Mutter meiner Freundin wären, würde ich mit Ihnen überhaupt nicht sprechen, verstanden?"

Herr Direktor Pogge wurde aufmerksam und trat hinzu.

"Das ist mein bester Freund", sagte Pünktchen und faßte ihn an der Hand. "Er heißt Anton und ist ein Prachtkerl.

"So?" fragte der Vater belustigt.

"Prachtkerl ist übertrieben", sagte Anton bescheiden. "Aber beschimpfeh laß ich mich nicht."

"Meine Frau hat es nicht so schlimm gemeint", erklärte Herr Pogge.

"Das wollen wir auch stark hoffen", sagte Pünktchen stolz und lächelte ihrem Freund zu. "So, und nun gehen wir nach Hause. Was haltet ihr davon? Anton, kommst du mit?"

Anton lehnte ab. Er mußte ja zu seiner Mutter.

"Dann kommst du morgen nach der Schule mal vorbei."

"Gut", sagte Anton und schüttelte ihr die Hand. "Wenn es deinen Eltern recht ist."

"Einverstanden", meinte Pünktchens Vater und nickte. Anton machte eine kleine Verbeugung und rannte fort.

"Der ist goldrichtig", erklärte Pünktchen und blickte ihm nach. Dann nahmen sie ein Taxi und fuhren heim. Das Kind saß zwischen den Eltern und spielte mit Groschen und Streichholzschachteln.

"Wie ist das nur alles gekommen?" fragte der Vater streng.

"Fräulein Andacht hat einen Bräutigam", berichtete Pünktchen. "Und weil der immer Geld brauchte, ging sie mit mir immer hierher. Und wir haben ja auch ganz hübsch verdient. Das kann man ohne Übertreibung sagen."

"Entsetzlich, meine Süße", rief die Mutter.

"Wieso entsetzlich?" fragte Pünktchen. "Es war kolossal spannend."

Frau Pogge sah ihren Mann an, schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, diese Dienstboten!"

Die vierzehnte Nachdenkerei handelt:

Vom Respekt

Im vorhergegangenen Kapitel steht ein Satz, der es verdient, daß wir ihn noch einmal anschauen. Es hieß dort von Frau Pogge: "Sie halte nie viel Respekt vor ihrem Mann gehabt, denn er war zu gut zu ihr."

Kann man denn überhaupt zu gut zu jemandem sein? Ich glaube schon. In der Gegend, wo ich geboren bin, gibt es ein Wort, das heißt: dummgut. Man kann vor lauter Freundlichkeit und Güte dumm sein, und das ist falsch. Die Kinder spüren es am allerersten, wenn jemand zu gut zu ihnen ist. Wenn sie etwas angesteilt haben, wofür sie sogar ihrer Meinung nach Strafe verdienten, und die Strafe bleibt aus, dann wundern sie sich. Und wenn sich der Fall wiederholt, verlieren sie Schritt für Schritt den Respekt vor dem Betreffenden.

Respekt ist etwas sehr Wichtiges. Manche Kinder tun von selber fast immer das Richtige, aber die meisten müssen es erst lernen. Und sie bedürfen dazu eines Barometers. Sie müssen fühlen: O weh, was ich da eben getan habe, war falsch, dafür verdiene ich Strafe.

Wenn dann aber die Strafe oder der Verweis ausbleibt, wenn die Kinder noch dafür, daß sie frech waren, Schokolade kriegen, sagen sie sich vielleicht: Ich will mal immer hübsch frech sein, dann kriegt man Schokolade.

Respekt ist nötig, und Respektspersonen sind nötig, solange die Kinder, und wir Menschen überhaupt, unvollkommen sind.

Fünfzehntes Kapite

Ein Polizist tanzt Tango

Als sie zu Hause die Treppe hinaufgingen, hörten sie in der ersten Etage Grammophonmusik. "Nanu", sagte Herr Pogge und schloß auf. Im Anschluß hieran erstarrte er zur Salzsäule, seine Frau tat desgleichen. Nur Pünktchen war nicht weiter überrascht, sondern unterhielt sich mit Piefke, der ihr entgegenlief.

Im Korridor tanzte die dicke Berta mit einem Polizisten Tango. Ein anderer Polizist stand am Reisegrammophon und drehte die Kurbel.

"Aber Berta!" rief Frau Pogge entrüstet. Pünktchen ging zu dem Potizisten, der am Grammophon stand, machte einen Knicks vor ihm und sagte: "Damenwahl, Herr Wachtmeister." Der Polizist legte den Arm um sie und tanzte mil ihr eine Ehrenrunde.

"Nun ist's aber genug!" rief der Direktor. "Berta, was soll das heißen? Haben Sie sich mit einer ganzen Polizeikompanie verlobt?"

"Leider nein", sagte die dicke Berta. Doch da kam ein dritter Polizist aus der Küche, und Frau Pogge murmelte: "Ich verliere den Verstand."

Pünktchen baute sich vor ihr auf und bat: "Ach ja, Mutti, mach das mal!"

"Ist nicht mehr nötig!" rief Berta. Das war ja eigentlich ziemlich unverschämt, aber Frau Pogge kapierte die Bemerkung nicht, und ihr Mann hatte mit Kopfschütteln alle Hände voll zu tun. Endlich führte Berta die Herrschaften in die Küche. Dort saß ein Mann im Regenmantel und trug Handschellen. "Der Herr wollte bei uns einbrechen, und da hab ich ihm die Birne weich geschlagen und das Überfallkommando verstandigt. Und weil Sie nicht da waren, haben wir mal rasch eine kesse Sohle aufs Parkett gelegt."

Der Mann, der die Handschellen trug, öffnete gerade die Augen. Sein Blick war völlig verglast.

"Das ist ja Robert der Teufel!" rief Pünktchen.

Die Eltern sahen sie überrascht an. "Wer?"