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Das kleine Mädchen nickte dem Vater zu und sagte: "Direktor, macht keine Dummheiten!"

Kaum waren die Eltern fort, sprang Pünktchen aus dem Bett und rief: "Los geht's!" Fräulein Andacht rannte in ihr Zimmer und holte aus der Kommode ein altes zerrissenes Kleidchen. Das brachte sie dem Kind. Sie selber zog einen mit Flicken besetzten Rock an und einen schrecklich verschossenen grünen Jumper. "Bist du fertig?" fragte sie.

"Jawohl!" rief Pünktchen vergnügt, und dabei sah sie in ihrem zerrissenen Kleid zum Erbarmen aus. "Sie haben Ihr Kopftuch noch nicht um", sagte sie.

"Wo habe ich das denn vorgestern hingelegt?" fragte Fräulein Andacht; doch dann fand sie es, band es sich um, setzte eine blaue Brille auf, holte eine Markttasche unterm Sofa vor, und so verkleidet schlichen die beiden auf den Zehenspitzen aus dem Haus.

Zehn Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatten, kam Berta die Treppe, die zu ihrem höher gelegenen Mädchenzimmer führte, leise herabgeschlichen, so leise die dicke Berta eben schleichen konnte. Sie klopfte sacht an Pünktchens Tür, aber niemand antwortete.

"Ob sie denn schon schläft, die kleine Krabbe?" fragte sie sich. "Vielleicht verstellt sie sich bloß. Da will ich ihr nun ein Stück von dem frisch gebackenen Kuchen zustekken; aber seit die Andacht, dieses dumme Luder, da ist, traut man sich rein gar nichts mehr. Neulich, wie ich die Tür aufgeklinkt habe, hat sie mich gleich bei der Gnädigen verklatscht. Der Schlaf vor Mitternacht sei der beste und dürfe nicht gestört werden. So 'n Quatsch, Schlaf vor Mitternacht! Pünktchen sieht jetzt manchmal aus, als ob sie nachts überhaupt nicht mehr schläft. Und dauernd das Getue und Getuschle. Ich weiß nicht, mir kommt hier neuerdings alles ganz komisch vor. Wenn der Direktor und Pünktchen nicht wären, wär ich längst getürmt."

"Wirst du wohl", drohte sie Piefke, der sich in seinem Körbchen vor Pünktchens Tür aufgerichtet hatte und nach dem Kuchen sprang. "Leg dich hin, du Töle, keinen Mucks! Hier hast du ein Stück, aber nun ruhig. Du bist noch der einzige im Haus, der keine Heimlichkeiten vor einem hat.

Die fünfte Nachdenkerei handelt:

Von der Neugierde

Wenn meine Mutter einen Roman liest, macht sie das so: Erst liest sie die ersten zwanzig Seiten, dann den Schluß, dann blättert sie in der Mitte, und nun nimmt sie erst das Buch richtig vor und liest es von Anfang bis Ende durch. Warum macht sie das? Sie muß, ehe sie den Roman in Ruhe lesen kann, wissen, wie er endet. Es läßt ihr sonst keine Ruhe. Gewöhnt euch das nicht an! Und falls ihr es schon so macht, gewöhnt es euch wieder ab, ja?

Das ist nämlich so, als wenn ihr vierzehn Tage vor Weihnachten in Mutters Schrank stöbert, um vorher zu erfahren, was ihr geschenkt kriegt. Und wenn ihr dann zur Bescherung gerufen werdet, wißt ihr schon alles. Ist das nicht schrecklich? Da müßt ihr dann überrascht tun, aber ihr wißt ja längst, was ihr bekommt, und eure Eltern wundern sich, warum ihr euch gar nicht richtig freut. Euch ist das Weihnachtsfest verdorben und ihnen auch.

Und als ihr heimlich im Schrank herumsuchtet und die Geschenke vierzehn Tage früher fandet, hattet ihr, vor lauter Angst, überrascht zu werden, auch keine rechte Freude. Man muß abwarten können. Die Neugierde ist der Tod der Freude.

Sechstes Kapitel

Die Kinder machen Nachtschicht

Kennt ihr die Weidendammer Brücke? Kennt ihr sie am Abend, wenn unterm dunklen Himmel ringsum die Lichtreklamen schimmern? Die Fassaden der Komischen Oper und des Admiralspalastes sind mit hellen Schaukästen und bunter Leuchtschrift bestreut. An einem anderen Giebel jenseits der Spree, zappelt in tausend Glühbirnen die Reklame für ein bekanntes Waschmittel, man sieht einen riesigen Kessel, der Wasserdampf steigt empor, ein blütenweißes Hemd erhebt sich wie ein freundlicher Geist, eine ganze bunte Bilderserie läuft ab. Und dahinter, über den Häusern des Schiffbauerdamms, glänzt der Giebel des Großen Schauspielhauses.

Autobusse rollen in Kolonnen über den Brückenbogen. Im Hintergrunde erhebt sich der Bahnhof Friedrichstraße Kochbahnen fahren über die Stadt hin, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und die Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Manchmal ist der Himmel rose vom Widerschein des vielen Lichts, das unter ihm strahlt.

Berlin ist schön, hier besonders, an dieser Brücke, und abends am meisten! Die Autos drängen die Friedrichstraße hinauf. Die Lampen und die Scheinwerfer blitzen, und auf den Fußsteigen schieben sich die Menschen vorwärts. Die Züge pfeifen, die Autobusse rattern, die Autos hupen, die Menschen reden und lachen. Kinder, das ist ein Leben!

Auf der Brücke stand eine dürre arme Frau mit einer dunklen Brille. Sie hielt eine Tasche und ein paar Schachteln Streichhölzer in der Hand. Neben ihr knickste ein kleines Mädchen in einem zerrissenen Kleid. "Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!" rief das kleine Mädchen mit zitternder Stimme. Viele Menschen kamen, viele Menschen gingen vorüber. "Haben Sie doch ein Herz mit uns armen Leuten", rief das Kind kläglich, "die Schachtel nur zehn Pfennig." Ein dicker Mann näherte sich der Gruppe und griff in die Tasche.

"Mutter ist völlig erblindet und noch so jung. Drei Schachteln fünfundzwanzig!" stammelte das Mädchen. Der dicke Mann gab ihr einen Groschen und ging weiter. "Gott segne Sie, liebe Dame!" rief das Kind. Da erhielt sie von der dürren Person einen Stoß. "Das war doch keine Dame, das war doch ein Mann, du dummes Ding", murmelte die Frau ärgerlich.

"Sind Sie nun blind oder nicht?" fragte das kleine Mädchen gekränkt. Dann knickste sie aber wieder und rief zitternd: "Streichhölzer, kaufen Sie Streichholzer, meine Herrschaften!" und jetzt gab ihr eine alte Dame einer Groschen und nickte freundlich.

"Das Geschäft blüht", flüsterte das Kind. "Wir haben schon zwei Mark dreißig eingenommen und nur fünf Schachteln Streichhölzer hergegeben." Dann rief sie wieder kläglich: "Haben Sie doch ein Herz mit uns armen Leuten. Die Schachtel nur zehn Pfennige!" Plötzlich hüpfte sie vergnügt und winkte. "Anton steht auf der anderen Seite", berichtete sie. Dann fiel sie aber gleich wieder in sich zusammen, knickste und klagte, daß den Vorübergehenden angst und bange wurde. "Vielen heißen Dank", sagte sie. Das Kapital wuchs. Sie warf das Geld in die Markttasche. Es fiel auf die anderen Münzen und klimperte lustig. "Und Sie schenken das ganze Geld Ihrem Bräutigam?" fragte sie. "Da kann der aber lachen."

"Halte den Mund", befahl die Frau.

"Na ja, ist doch wahr!" erwiderte Pünktchen. "Wozu stehen wir denn sonst Abend für Abend hier und halten Maulaffen feil?"

"Kein Wort mehr!" murmelte die Frau böse.

"Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!" jammerte Pünktchen wieder, denn es kamer Leute vorbei. "Wir sollten lieber dem Anton was abgeben. Er hat doch bis zum Sonnabend die faule Seite." Plötzlidi quiekte sie, als hätte sie wer getreten. "Da kommt der Klepperbein, der Lausejunge."

Anton stand auf der anderen Seite der Brücke, auf der faulen Seite, wo wenig Menschen vorübergingen. Er hielt einen kleinen aufgeklappten Handkoffer vor sich und sagte, wenn jemand vorbeikam: "Braune oder schwarze Schnürsenkel für Halbschuhe gefällig? Streichhölzer kann man immer brauchen, bitte schön." Er hatte kein kaufmännisches Talent. Er verstand es nicht, den Leuten vorzujammern, obwohl ihm das Heulen näher war als das Lachen. Er hatte dem Hauswirt versprochen, übermorgen fünf Mark Miete abzuzahlen, das Wirtschaftsgeld war auch schon wieder zu Ende. Er mußte morgen Margarine besorgen, sogar ein Viertelpfund Leberwurst plante er.

Du gehörst ja auch eher ins Bett als hierher", sagte ein Herr.

Anton sah ihn groß an. "Das Betteln macht mir aber solchen Spaß", murmelte er.