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Und doch – es war auch nicht ihre Art von Humor, so nahm er zumindest an. Hastende Gestalten überholten ihn wieder und stießen ihn leicht zur Seite. Eine Frau im Regenmantel kam daher, sie ging mühsam. Sie stieß mit ihm zusammen, rutschte aus, fiel auf die Knie. Er half ihr auf.

«Ist alles in Ordnung?»

«Ja, danke.»

Sie eilte weiter, aber als sie an ihm vorbeiging, drückte ihre nasse Hand, die er gehalten hatte, als er sie auf die Füße zog, ihm etwas in die Hand. Dann war sie weg, verschwunden in der Menge. Stafford Nye ging weiter. Er konnte sie nicht überholen. Sie wollte auch nicht überholt werden. Er eilte weiter und seine Hand umfasste etwas ganz fest. Und so schien er schließlich und endlich am Ende der Brücke auf der Surrey-Seite angelangt zu sein. Ein paar Minuten später kehrte er in ein kleines Cafe ein, setzte sich an einen Tisch und bestellte einen Kaffee. Dann sah er sich an, was er in der Hand hielt. Es war ein sehr dünner Umschlag aus Ölpapier. Darin lag ein billiger weißer Umschlag. Auch den öffnete er. Der Inhalt überraschte ihn. Es war eine Eintrittskarte. Eine Eintrittskarte für die Festival Hall am folgenden Abend.

Kapitel 5

Ein Wagner-Motiv

Sir Stafford Nye machte es sich in seinen Sitz bequem und lauschte dem anhaltenden Hämmern der Nibelungen, mit dem das Programm begann.

Obwohl er Wagner-Opern liebte, war Siegfried nicht gerade sein Favorit unter den Opern, die den Ring bildeten. Rheingold und Götterdämmerung galt seine Vorliebe. Die Musik des jungen Siegfried, der dem Gesang der Vögel lauschte, hatte ihn immer aus irgendeinem seltsamen Grund irritiert, anstatt ihn mit romantischen Gefühlen zu erfüllen. Vielleicht war es wegen einer Aufführung, die er einmal in jungen Jahren in München besucht hatte und die einen wunderbaren Tenor, leider von übermäßigen Proportionen, präsentiert hatte. Damals war er zu jung gewesen, um die Freuden der Musik von der optischen Freude zu trennen, einen zumindest annähernd jung erscheinenden Siegfried zu sehen. Die Tatsache, dass ein überdimensionaler Tenor in überschäumender Jugendlichkeit auf dem Boden herumrollte, hatte ihn abgestoßen. Er war auch nicht sehr angetan von Vögeln und Waldgeweben. Nein, lieber jederzeit die Rheintöchter, obwohl in München sogar die Rheintöchter in jenen Tagen von recht kompakten Proportionen waren. Aber das störte ihn nicht so sehr. Dahingetragen vom melodischen Fließen des Wassers und dem jubelnden unpersönlichen Gesang, hatte er es nicht zugelassen, dass der visuelle Eindruck ihn beeinflusste.

Von Zeit zu Zeit sah er sich vorsichtig um. Er hatte seinen Platz schon ziemlich früh eingenommen. Das Haus war wie üblich voll besetzt. Die Pause nahte. Der Platz neben ihm war leer geblieben. Jemand, der hätte kommen sollen, war nicht gekommen. War das die Antwort, oder war jemand wegen einer Verspätung nur nicht eingelassen worden, eine Praxis, die bei Wagner-Aufführungen immer noch eingehalten wurde.

Er ging nach draußen, wanderte umher, trank eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette und kehrte zurück, als der Aufruf kam. Als er zu seinem Platz zurückkehrte, war der Sitz neben ihm besetzt. Sofort spürte er seine Aufregung wieder. Er setzte sich. Ja, es war die Frau aus der Frankfurter Abflughalle. Sie schaute ihn nicht an, sondern blickte starr geradeaus. Im Profil sah ihr Gesicht genauso klar geschnitten und rein aus, wie er es in Erinnerung hatte. Sie bewegte leicht den Kopf, und ihr Blick ging über ihn hinweg, ohne ein Wiedererkennen zu signalisieren. So intensiv war dieses Nicht-Wiedererkennen, dass es jedes gesprochene Wort ersetzte. Dies war ein Treffen, das geheim bleiben sollte. Die Lichter wurden schwächer, und die Frau neben ihm wandte sich ihm zu.

«Verzeihen Sie, könnte ich mir Ihr Programmheft ansehen? Ich habe meines auf dem Weg zu meinem Platz verloren, fürchte ich.»

«Natürlich», erwiderte er.

Er reichte das Programmheft hinüber, und sie nahm es entgegen. Sie öffnete es und studierte den Inhalt. Der zweite Teil der Aufführung begann. Es fing mit der Lohengrin-Ouvertüre an. Am Ende reichte sie ihm das Programmheft mit ein paar Dankesworten zurück.

«Haben Sie vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen.»

Das nächste Stück war das Waldweben aus Siegfried. Er konsultierte das Programmheft, das sie ihm zurückgegeben hatte. Da bemerkte er etwas, das schwach mit Bleistift unten auf einer Seite geschrieben stand. Er versuchte nicht, es sofort zu lesen. Das Licht hätte dazu auch gar nicht ausgereicht. Er klappte das Programmheft zu und hielt es fest. Er war sich sicher, dass er selbst nichts dorthin geschrieben hatte. Vielleicht hatte sie ihm also ihr eigenes Programmheft gegeben, dachte er, und vorher schon eine Botschaft an ihn hineingeschrieben. Die allgemeine Atmosphäre von Geheimnis und Gefahr herrschte noch immer, dachte er. Das Treffen auf der Hungerford-Brücke und der Umschlag mit der Eintrittskarte, die ihm in die Hand gedrückt worden war. Und nun die Frau, die stumm neben ihm saß. Er sah sie ein- oder zweimal an mit dem flüchtigen, gleichgültigen Blick, den man einer Fremden, die neben einem sitzt, schenkt. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Sessel; ihr hochgeschlossenes Kleid war aus stumpfem, dunklem Krepp. Ein antiker Goldreifen umschloss ihren Hals. Ihr Haar war kurz geschnitten. Sie erwiderte seinen Blick nicht. Er fragte sich, ob irgendjemand auf einem der Plätze in der Festival Hall sie beobachtete – oder ihn? Ob jemand registrierte, wenn sie sich ansahen oder miteinander sprachen? Anzunehmen war das, zumindest bestand die Möglichkeit. Sie hatte seine Zeitungsannonce beantwortet. Das sollte ihm genügen. Seine Neugier war unvermindert, aber er wusste jetzt wenigstens, dass Daphne Theofanous – alias Mary Ann – hier in London war. Es gab künftige Möglichkeiten, mehr darüber zu erfahren, was genau im Gange war. Aber der Schlachtplan musste ihr überlassen bleiben. Er musste ihren Hinweisen folgen. So wie er auf dem Flughafen ihre Anweisungen befolgt hatte, würde er sie auch jetzt befolgen und – er musste es zugeben – das Leben war plötzlich interessanter geworden. Das war besser als die langweiligen Konferenzen in seinem politischen Dasein. Hatte ihn tatsächlich ein Wagen gestreift neulich am Abend? Er glaubte es zumindest. Zwei Versuche – nicht nur einer. Es war allerdings leicht anzunehmen, dass man das Ziel eines Überfalls war. Die Leute fuhren heutzutage so rücksichtslos. Er faltete sein Programmheft zusammen und sah es nicht mehr an. Die Musik ging zu Ende. Die Frau neben ihm sprach plötzlich. Sie drehte nicht den Kopf und man sah sie nicht sprechen. Aber sie sprach hörbar, mit einem kleinen Seufzer zwischen den Worten, als redete sie mit sich selbst oder mit ihrem Nachbarn zur anderen Seite.

«Jung-Siegfried», sagte sie und seufzte wieder.

Die Vorstellung endete mit dem Marsch aus den Meistersingern. Nach enthusiastischem Beifall begann das Publikum seine Plätze zu verlassen. Er wartete, ob sie ihm irgendeinen Hinweis gäbe, aber das tat sie nicht. Sie nahm Ihren Umhang, verließ die Sitzreihe und bewegte sich mit leicht beschleunigten Schritten mit den anderen Leuten nach vorn und verschwand in der Menge.