«Du hast ja ganz außerordentliche Fantasien.»
«Das sind keine Fantasien, mein lieber Junge. Das haben die Leute damals über Hitler auch gesagt. Über Hitler und die Hitlerjugend. Aber das war lange und sorgfältig vorbereitet. Es war ein Krieg, der in allen Einzelheiten vorbereitet war. Es gab eine fünfte Kolonne, in mehreren Ländern aufgebaut, voll bereit für die Übermenschen. Die Übermenschen sollten die Blüte der deutschen Nation sein. Das dachten sie und daran glaubten sie leidenschaftlich. Jemand anders glaubt vielleicht heute auch so etwas. Es ist eine Glaubenslehre, die sie willig annehmen werden – wenn sie geschickt genug präsentiert wird.»
«Von wem sprichst du überhaupt? Meinst du die Chinesen oder die Russen? Was meinst du damit?»
«Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Idee. Aber da ist etwas irgendwo, und es bewegt sich auf derselben Linie. Wieder das Muster, siehst du. Das Schema! Die Russen? Niedergehalten vom Kommunismus. Ich glaube, man hält sie für altmodisch. Die Chinesen? Ich glaube, sie haben die Richtung verloren. Zu viel Vorsitzender Mao vielleicht. Ich weiß nicht, wer diese Leute sind und wer die Planung übernimmt. Wie schon gesagt, es geht um das Warum, das Wo, das Wenn und das Wer.»
«Sehr interessant.»
«Es ist so beängstigend. Die gleiche Idee kehrt immer wieder. Die Geschichte wiederholt sich. Der junge Held, der goldene Übermensch, dem alle folgen müssen.» Sie hielt inne und fuhr dann fort: «Die gleiche Idee, weißt du. Jung-Siegfried.»
Kapitel 7
Rat von Großtante Matilda
Großtante Matilda sah ihn an. Sie hatte sehr scharfe und kluge Augen. Stafford Nye hatte das schon früher bemerkt. In diesem Augenblick spürte er es besonders.
«Also hast du diesen Ausdruck schon gehört», sagte sie. «Soso.»
«Was hat er zu bedeuten?»
«Das weißt du nicht?» Sie zog die Augenbrauen hoch.
«Hand aufs Herz. Ich schwöre, ich weiß es nicht», sagte Sir Stafford wie in alten Kindertagen.
«Ja, das haben wir immer gesagt, nicht wahr?», erinnerte sich Lady Matilda. «Meinst du das ernst, was du sagst?»
«Ich weiß wirklich nichts darüber.»
«Aber du hast die Bezeichnung schon einmal gehört.»
«Ja. Jemand hat sie mir genannt.»
«Jemand Wichtiges?»
«Könnte sein. Ich nehme an, dass das sein könnte. Was meinst du mit jemand Wichtiges?»
«Nun, du warst in letzter Zeit an einigen Regierungsmissionen beteiligt, nicht wahr? Du hast dieses arme elende Land so gut es ging vertreten. Was, wie ich annehme, auch nicht viel besser war als was andere hätten tun können, indem sie an einem Tisch herumsaßen und redeten. Ich weiß nicht, ob irgendwas dabei herausgekommen ist.»
«Wahrscheinlich nicht», erwiderte Stafford Nye. «Immerhin, man ist ohnehin nicht optimistisch, wenn man diese Dinge in Angriff nimmt.»
«Aber man tut sein Bestes», sagte Lady Matilda berichtigend.
«Ein sehr christliches Prinzip. Wenn man heutzutage sein Schlimmstes tut, kommt man oft sehr viel besser zurande. Was hat das alles zu bedeuten, Tante Matilda?»
«Ich glaube, ich weiß das nicht», antwortete seine Tante.
«Nun, du weißt oft viele Dinge.»
«Nicht genau. Ich schnappe nur hier und da ein paar Sachen auf.»
«Ja?»
«Ein paar alte Freunde sind mir geblieben, weißt du. Freunde, die Bescheid wissen. Die meisten sind natürlich stocktaub oder halb blind oder ein bisschen wirr im Kopf oder nicht mehr in der Lage, geradeaus zu gehen. Aber etwas funktioniert noch. Sagen wir, etwas hier oben.» Sie schlug sich auf ihren ordentlich frisierten weißen Kopf. «Es gibt viel Angst und Niedergeschlagenheit. Mehr als gewöhnlich. Das ist eines der Dinge, die ich aufgeschnappt habe.»
«Gibt es das nicht immer?»
«Ja, ja, aber dies hier ist stärker. Aktiv statt passiv, könnte man sagen. Seit langem, wie ich als Außenstehende bemerke und du zweifellos als mitten im Geschehen Stehender, haben wir das Gefühl, dass die Dinge im Argen liegen. Sie sind schlimm durcheinandergeraten. Jetzt haben wir aber einen Punkt erreicht, wo wir den Eindruck gewinnen, dass jemand an dem Durcheinander gerührt hat. Es hat ein Element der Gefahr. Etwas ist im Gange – wird ausgebrütet. Nicht nur in einem Land. In einer ganzen Anzahl von Ländern. Sie haben eine eigene Truppe aufgestellt und die Gefahr dabei ist, dass es sich um junge Leute handelt. Die Art Leute, die bereit ist, überall hinzugehen, alles zu tun, unglücklicherweise auch alles zu glauben. Und solange man ihnen ein gewisses Maß an Zerstörung und Sand-ins-Getriebe-Streuen verspricht, glauben sie, es muss eine gute Sache sein und die Welt wird eine andere werden. Sie sind nicht kreativ, das ist das Problem – nur destruktiv. Kreative junge Leute schreiben Gedichte, Bücher, komponieren vielleicht Musik, malen Bilder, genau so, wie sie es immer getan haben. Sie sind in Ordnung – aber wenn die Leute einmal lernen, die Zerstörung um ihrer selbst willen zu lieben, hat eine üble Führerschaft ihre Chance.»
«Du sagst immer ‹sie› oder ‹die›. Wen meinst du eigentlich damit?»
«Ich wünschte, ich wüsste es», antwortete Lady Agatha. «Ja, ich wünschte, ich wüsste es. Sehr sogar. Wenn ich etwas Nützliches in Erfahrung bringe, werde ich es dir verraten. Dann kannst du etwas unternehmen.»
«Unglücklicherweise habe ich niemanden, dem ich das berichten könnte, das heißt, an den ich es weitergeben könnte.»
«Ja, gib es bloß nicht an irgendjemand Beliebigen weiter. Man kann sich auf die Leute nicht verlassen. Gib es nur nicht an einen von diesen Idioten in der Regierung weiter oder jemand, der mit der Regierung in Verbindung steht oder darauf zählt, in die Regierung zu kommen, wenn die Zeit der jetzigen Bande abläuft. Politiker haben gar keine Zeit, sich in der Welt, in der sie leben, umzusehen. Sie sehen zwar das Land, in dem sie leben, aber sie betrachten es lediglich als eine einzige große Wahlplattform. Damit haben sie dann vorerst genug auf ihrem Teller. Sie tun Dinge, von denen sie ehrlich glauben, dass sie alles besser machen. Und dann sind sie überrascht, wenn das nicht der Fall ist, weil es nicht die Dinge sind, die die Menschen haben wollen. Und man kann sich der Schlussfolgerung kaum erwehren, dass Politiker das Gefühl haben, sie hätten eine Art göttliches Recht auf Lügen für einen guten Zweck. Es ist wirklich noch gar nicht so lange her, dass Mr. Baldwin seine berühmte Bemerkung machte – ‹Hätte ich die Wahrheit gesagt, hätte ich die Wahl verloren.› Premierminister beanspruchen dieses Recht immer noch. Ab und zu haben wir einen wirklich großen Mann, Gott sei Dank. Aber das ist selten.»
«Nun, was schlägst du vor, was sollte man tun?»
«Fragst du mich um Rat? Mich? Weißt du, wie alt ich bin?»
«Du gehst auf die neunzig zu.»
«So alt bin ich nun auch wieder nicht», sagte Lady Matilda leicht beleidigt. «Sehe ich so aus, lieber Junge?»
«Nein, Liebes. Du siehst aus wie nette, gemütliche Sechsundsechzig.»
«Schon besser», schmunzelte Lady Matilda. «Es ist nicht wahr. Klingt aber besser. Vielleicht bekomme ich irgendeinen Tipp von einem meiner lieben alten Admiräle, einem alten General oder möglicherweise sogar von einem Luftmarschall. Die erfahren solche Dinge. Sie haben immer noch ihre engen Freunde, und die alten Knaben treffen sich und reden miteinander. Und so macht es dann die Runde. Es gab immer eine Art Nachrichtendienst, und den gibt es immer noch, gleichgültig, wie betagt die Leute sind. Jung-Siegfried. Wir suchen einen Hinweis auf die Bedeutung – ich weiß nicht, ob es eine Person ist, der Name eines Clubs, ein neuer Messias oder ein Popsänger. Aber dieser Ausdruck beinhaltet etwas. Dann ist da auch das musikalische Motiv. Ich habe meine Wagnerzeiten ziemlich vergessen.» Ihre gealterte Stimme krächzte eine nur teilweise erkennbare Melodie. «Siegfrieds Hornruf, nicht wahr? Besorg dir doch eine Blockflöte, warum tust du das nicht? Ich meine eine richtige Blockflöte. Keine Schallplatte, die man aufs Grammofon legen kann – ich meine so ein Ding, wie es die Schulkinder haben. Sie haben Unterricht darin. Neulich bin ich zu einem Vortrag gegangen. Unser Vikar hat ihn gehalten. Es war ganz interessant. Über die Geschichte der Blockflöte und alle Flöten, die es seit dem Elisabethanischen Zeitalter gegeben hat. Und die Blockflöten selbst, manche haben einen wunderschönen Ton. Und ihre Geschichte. Ja. Nun, was sagte ich gerade?»