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«Es muss vor etwa einem Jahr gewesen sein. Als ich das letzte Mal in England war», sagte die Gräfin.

Und da war sie wieder, die Passagierin aus Frankfurt. Selbstsicher, wie selbstverständlich, wunderschön gekleidet in zartem Graublau mit ein wenig Chinchilla. Ihr Haar trug sie hoch aufgetürmt (eine Perücke?), ein Rubinkreuz in antikem Design um den Hals.

«Signor Gasparo, Graf Reitner, Mr. und Mrs. Arbuthnot».

Es waren alles in allem etwa sechsundzwanzig Leute. Beim Dinner saß Stafford Nye zwischen der uninteressanten Mrs. Staggenham und Signora Gasparo. Renata Zerkowski saß ihm direkt gegenüber.

Ein Botschaftsdinner. Ein Dinner, wie er sie oft besuchte, meist mit genau der gleichen Art von Gästen. Verschiedene Mitglieder des Diplomatischen Korps, Junior-Minister, ein oder zwei Industrielle, üblicherweise ein paar Damen und Herren der feinen Gesellschaft, weil sie gut Konversation machen konnten, natürliche, angenehme Leute. Obwohl – ein oder zwei waren vielleicht anders, dachte Stafford Nye, während er sich mit Signora Gasparo unterhielt, einer charmanten Gesprächspartnerin, einer etwas koketten Plaudertasche. Seine Gedanken wanderten umher, seine Augen auch, aber sehr unauffällig. Während sie über den Tisch glitten, hätte keiner sagen können, er zöge in Gedanken irgendwelche Schlüsse. Er war hierher eingeladen worden. Warum? Gab es einen bestimmten Grund? War sein Name einfach auf der Liste aufgetaucht, die die Sekretärinnen von Zeit zu Zeit erstellten und auf der sie die Namen markierten, die wieder an der Reihe waren? Oder war er der Ersatzmann, der dazu da war, die Sitzordnung auszugleichen? Er war immer gefragt, wenn ein Ersatzmann benötigt wurde.

«Ach ja», pflegte eine Diplomaten-Gastgeberin zu sagen, «Stafford Nye eignet sich hervorragend. Setzen wir ihn neben Madam Soundso oder Lady Sonstwer.»

Vielleicht war er nur aus diesem Grund eingeladen worden. Und doch war er sich nicht sicher. Er wusste aus Erfahrung, dass es auch andere Gründe gab. So waren seine Augen mit eiliger Unverbindlichkeit, den Anschein wahrend, dass sie nichts Besonderes wahrnahmen, immer in Bewegung.

Vielleicht war einer der Gäste aus einem bestimmten Grund bedeutsam. Jemand, der geladen war – nicht als Ersatz – im Gegenteil, jemand, der eine Auswahl von Gästen einladen ließ, die in seinen – oder ihren – Kreis passten. Er fragte sich, wer es sein könnte.

Cortman wusste natürlich Bescheid. Vielleicht auch Milly Jean.

Bei Ehefrauen wusste man nie. Manche waren bessere Diplomaten als ihre Ehemänner. Auf manche konnte man sich verlassen wegen ihres Charmes, ihrer Anpassungsfähigkeit, dem Bestreben zu gefallen und ihres Mangels an Neugier. Andere wieder, dachte er reumütig, waren für ihre Ehemänner eine Katastrophe. Es gab Gastgeberinnen, die, auch wenn sie Prestige oder Geld eingebracht hatten oder eine diplomatische Heirat gewesen waren, jederzeit in der Lage waren, das Falsche zu tun oder zu sagen und unglückliche Situationen herbeizuführen. Wollte man sich davor schützen, so benötigte man einen Gast oder besser mehrere Gäste, die sozusagen als professionelle Wogenglätter fungierten.

War diese Dinnerparty heute Abend noch etwas anderes als ein gesellschaftliches Ereignis? Sein geübtes, aufmerksames Auge hatte bereits den ganzen Tisch erfasst und ein oder zwei Leute herausgepickt, die er noch nicht ganz einschätzen konnte. Einen amerikanischen Geschäftsmann. Angenehm, gesellschaftlich allerdings nicht brillant. Ein Professor an einer der Universitäten im Mittelwesten. Ein Ehepaar, der Mann Deutscher, die Frau auffallend, nahezu aggressiv amerikanisch. Eine sehr schöne Frau. Sexuell höchst anziehend, dachte Sir Stafford. War einer von ihnen wichtig? Buchstabenkombinationen gingen ihm durch den Kopf. FBI. CIA. Der Geschäftsmann war vielleicht von der CIA und aus einem bestimmten Grund hier. So lagen die Dinge heute. Es war nicht wie früher. Wie hieß das Schlagwort? «Big Brother is watching you» – der Große Bruder beobachtet dich. Ja, heute ging es sogar noch weiter. «Der Transatlantische Cousin beobachtet dich.» Aber das war auch nur ein weiteres Schlagwort. Die Hochfinanz von Mitteleuropa beobachtet dich. Hier wurde die diplomatische Schwierigkeit verlangt, du sollst ihn beobachten. Ach ja. Heute steckte meist mehr hinter den Dingen. Aber war das auch nur ein Schlagwort, eine Formel, eine neue Mode? Sollte es wirklich mehr bedeuten, etwas Lebenswichtiges, Reales? Wie sprach man heute überhaupt über die Ereignisse in Europa? Der Gemeinsame Markt. Nun, das war schon in Ordnung, da ging es um Handel, um die Wirtschaft, die Beziehungen der Länder untereinander.

Das war die Bühne, auf der man agieren musste; aber was befand sich hinter der Bühne, backstage? Warten auf das Stichwort. Bereit sein zu soufflieren, wenn es nötig war. Was war los in der großen Welt, was geschah im Hintergrund? Er war sich nicht sicher.

Manches war ihm bekannt, anderes erriet er. Über einige Dinge weiß ich gar nichts, dachte er, und keiner will, dass ich etwas erfahre.

Seine Augen verweilten einen Augenblick auf seinem Gegenüber. Sie trug das Kinn erhoben, ihr Mund war sanft zu einem höflichen Lächeln verzogen. Ihre Augen trafen sich. Diese Augen sagten ihm gar nichts, das Lächeln ebenso wenig. Was tat sie hier? Sie war ganz in ihrem Element, sie passte hierher, kannte diese Welt. Ja, sie fühlte sich hier zu Hause. Er könnte ohne große Schwierigkeiten herausfinden, wo in der diplomatischen Welt sie einzuordnen war, dachte er. Aber würde ihm das verraten, wo ihr wirklicher Platz war?

Die junge Frau in Hosen, die ihn in Frankfurt so unvermittelt angesprochen hatte, sie hatte ein eifriges, intelligentes Gesicht. War das die wirkliche Frau, oder spielte sie nur eine Rolle? Und wenn ja, welche? Da könnte es auch noch mehr als nur diese beiden Persönlichkeiten geben. Das wollte er herausfinden.

Oder war die Tatsache, dass sie ihn um ein Treffen gebeten hatte, ohne Bedeutung? Milly Jean erhob sich. Die anderen Damen taten es ihr nach. Dann gab es plötzlich unerwarteten Lärm. Einen Lärm von außerhalb des Hauses. Rufe. Geschrei. Das Krachen von splitterndem Fensterglas. Rufe. Geräusche – sicherlich Pistolenschüsse. Signora Gasparo klammerte sich an Staffords Arm.

«Was, schon wieder?», rief sie aus. «Dio! Wieder diese furchtbaren Studenten. Genau wie bei uns. Warum greifen sie die Botschaften an? Sie kämpfen, setzen sich gegen die Polizei zur Wehr – demonstrieren und skandieren idiotische Sprüche und legen sich auf die Straße. Si, si. Wir haben sie in Rom – in Mailand – wir haben sie überall in Europa, wie eine Pest. Warum sind sie niemals zufrieden, diese jungen Leute, was wollen Sie nur?»

Stafford nippte an seinem Cognac und lauschte dem schwerfälligen Tonfall von Mr. Charles Staggenham, der wieder einmal endlos dozierte. Die Aufregung hatte sich gelegt. Anscheinend hatte die Polizei ein paar Hitzköpfe abgeführt. Es war einer dieser Vorfälle, die man früher für außergewöhnlich gehalten hätte, heute aber als selbstverständlich hinnahm…

«Ein großes Polizeiaufgebot. Das brauchen wir. Es ist einfach zu viel für die Leute. Es soll überall dasselbe sein. Hier gibt es Unruhen, aber bei den Franzosen auch. In den skandinavischen Ländern sind sie nicht so häufig. Was wollen die alle bloß – einfach nur Aufruhr? Ich sage Ihnen, wenn es nach mir ginge – »

Stafford Nyes Gedanken schweiften ab. Er gab jedoch vor, Charles Staggenham hingebungsvoll zuzuhören, der gerade erklärte, was genau er tun würde – das hätte man ohnehin von ihm erwartet.

«Sie schreien wegen Vietnam und so was. Was wissen die denn überhaupt von Vietnam? Sie sind doch nie da gewesen, oder?»

«Das ist sehr wahrscheinlich», sagte Sir Stafford Nye.

«Jemand hat mir vorhin erzählt, dass es eine Menge Unruhen in Kalifornien gegeben hat. An den Universitäten – wenn wir eine vernünftige Strategie hätten…»