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Reiseunterbrechung

Kapitel 1

Passagier nach Frankfurt

I

«Bitte anschnallen.» Die Passagiere im Flugzeug leisteten nur zögernd Folge. Es herrschte allgemein der Eindruck, dass sie unmöglich schon in Genf ankommen könnten. Die Schläfrigen stöhnten und gähnten. Die noch Benommeneren mussten sanft von einer gebieterischen Stewardess geweckt werden. «Ihre Sitzgurte, bitte.» Die trockene Stimme kam herrisch über den Lautsprecher. Sie erklärte auf Deutsch, Französisch und Englisch, dass eine kurze Schlechtwetterstrecke durchzustehen sei. Sir Stafford Nye öffnete den Mund so weit wie möglich, gähnte und setzte sich aufrecht in seinen Sitz. Er hatte gerade selig vom Angeln in einem englischen Fluss geträumt. Ein Mann von 45 Jahren, mittelgroß, mit ebenmäßigem olivenfarbenen, glattrasierten Gesicht. Seine Kleidung tendierte eher zum Bizarren. Als Mann aus bester Familie kultivierte er ganz souverän solche Launen in seiner Bekleidung. Wenn dies seine konventioneller gekleideten Kollegen gelegentlich zusammenzucken ließ, so war das nur ein Quell boshafter Belustigung für ihn. Er hatte etwas von einem Dandy aus dem 18. Jahrhundert. Er genoss es aufzufallen.

Seine bevorzugte Reisekleidung war eine Art Räuberumhang, den er einmal auf Korsika gekauft hatte. Er war von einem besonders dunklen Lila-Blau, hatte ein scharlachrotes Futter und besaß eine burnusartige Kapuze, die er nach Belieben über den Kopf ziehen konnte, um sich vor Zugluft zu schützen.

In diplomatischen Kreisen galt Sir Stafford Nye als Enttäuschung. Von Jugend an aufgrund seiner Begabungen für Großes bestimmt, hatte er, was die Erfüllung der Erwartungen betraf, eklatant versagt. Ein eigenwilliger Sinn für schwarzen Humor pflegte ihn ausgerechnet in den entscheidenden ernsten Momenten zu überfallen. Im Zweifelsfall zog er es vor, seinem seltsamen Humor zu frönen statt sich zu langweilen. Er war eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ohne sich jemals irgendwie hervorgetan zu haben. Man war der Ansicht, dass Stafford Nye, wenn auch äußerst brillant, ein eher unzuverlässiger Mensch sei und auch bleiben würde. In diesen Zeiten verworrener Politik und verworrener internationaler Beziehungen war Sicherheit der Brillanz vorzuziehen, besonders wenn man den Botschafterrang anstrebte. Sir Stafford wurde aufs Abstellgleis geschoben, war jedoch gelegentlich mit Missionen betraut, die der Kunst der Intrige bedurften, allerdings nicht allzu wichtig oder allzu öffentlicher Natur waren. Journalisten bezeichneten ihn zuweilen als die unbekannte Größe der Diplomatie.

Ob Sir Stafford selbst unzufrieden mit seiner Karriere war, wusste niemand. Vielleicht nicht einmal Sir Stafford selbst. Er war ein Mann mit gewissen Eitelkeiten, aber auch jemand, der es sehr genoss, seinem Hang zum Unfug nachzugeben.

Er kehrte gerade von einer Untersuchungskommission in Malaysia zurück. Er hatte sie als ausgesprochen uninteressant empfunden. Seine Kollegen hatten seiner Meinung nach bereits im Voraus beschlossen, wie ihre Untersuchungsergebnisse aussehen sollten. Sie beobachteten und lauschten, ihre vorgefassten Ansichten wurden davon jedoch in keiner Weise berührt. Sir Stafford hatte versucht, einigen Sand ins Getriebe zu werfen, mehr nur so zum Spaß als aus ausgesprochener Überzeugung. Zumindest hatte es die Situation etwas belebt, dachte er. Er wünschte sich mehr Gelegenheit zu solchen Aktivitäten. Seine Kollegen in der Kommission waren solide, zuverlässige Burschen – und bemerkenswert langweilig. Sogar das einzige weibliche Mitglied, die allseits bekannte Mrs. Nathaniel Everidge, sonst wohlbekannt für ihre Spleens, war keine Närrin, wenn es um eindeutige Fakten ging. Sie schaute, sie lauschte – und ging auf Nummer sicher. Er hatte sie früher schon einmal getroffen, anlässlich einer Tagung wegen eines Problems in einer der Balkanhauptstädte. Dort hatte sich Sir Stafford nicht enthalten können, einige interessante Vorschläge zu unterbreiten. In der skandalverliebten Zeitschrift Inside News wurde angedeutet, dass die Anwesenheit von Sir Staffort Nye in jener Balkan-Kapitale innig mit den dortigen Problemen verwoben und seine Mission von geheimer Art und höchst delikat sei. Eine Art Freund hatte Sir Stafford ein Exemplar zugesandt, die betreffenden Passagen waren markiert. Sir Stafford war nicht abgeschreckt. Er las es mit einem freudigen Grinsen. Es amüsierte ihn sehr, wie lächerlich weit die Journalisten in diesem Fall von der Wahrheit entfernt waren. Seine Anwesenheit in Sofiagrad war einzig dem unschuldigen Interesse an seltenen Wildblumen und der dringlichen Einladung seiner betagten Freundin Lady Lucy Cleghorn zuzuschreiben, die ständig auf der Suche nach diesen scheuen Blumen-Raritäten war. Sie schien jederzeit bereit, beim Anblick irgendeines Blümchens, bei dem die Länge des lateinischen Namens im umgekehrten Verhältnis zu seiner Größe stand, eine Felsklippe zu erklimmen oder mit Freuden in eine Moorpfütze zu springen. Eine kleine Gruppe von Enthusiasten hatte diese botanische Exkursion etwa zehn Tage lang an den Berghängen unternommen, da ging es Sir Stafford auf, dass der Abschnitt in der Zeitschrift nicht der Wahrheit entsprach. Er war der Wildblumen ein wenig – wirklich nur ein wenig – überdrüssig. Und so sehr er Lucy auch zugetan war, ihre Fähigkeit trotz ihrer über 60 Lenze die Berge in Höchstgeschwindigkeit zu erklimmen und ihn mit Leichtigkeit zu überholen, ärgerte ihn zuweilen. Immerzu schwebte ihr königsblauer Hosenboden direkt vor seiner Nase. Und auch wenn an anderen Stellen hinreichend knochig, war sie, Gott seis geklagt, zu ausladend in den Hüften, um königsblaue Cordhosen zu tragen. Dann doch besser eine nette kleine internationale Affäre, in der er die Hand im Spiel haben könnte…

Im Flugzeug erklang wieder die metallische Lautsprecherstimme. Sie verkündete den Passagieren, dass die Maschine wegen dichten Nebels in Genf nach Frankfurt umgeleitet und von dort nach London weiterfliegen würde. Passagiere nach Genf würden sobald wie möglich von Frankfurt zurückgeflogen werden. Sir Stafford Nye war das gleichgültig. Wenn in London Nebel wäre, würden sie die Maschine vermutlich nach Prestwick umleiten. Er hoffte, das würde nicht geschehen. Er war bereits zu oft in Prestwick gewesen. Das Leben an sich, dachte er, und Flugreisen im Besonderen, waren wirklich übertrieben langweilig. Wenn nur – er wusste selbst nicht was – wenn nur – was?

II

In der Transitlounge in Frankfurt war es warm, also warf Sir Stafford seinen Umhang zurück, das scharlachrote Futter dramatisch um die Schultern drapiert. Er trank ein Glas Bier und lauschte mit halbem Ohr den verschiedensten Durchsagen. «Flug 4387 nach Moskau. Flug 2381 nach Ägypten und Kalkutta.»

Reisen über den ganzen Erdball. Wie romantisch das hätte sein können. Aber die Atmosphäre einer Passagierlounge auf dem Flughafen hatte rein gar nichts Romantisches. Es gab zu viel zu kaufen, zu viele eintönige Sitzgelegenheiten, zu viel Plastik, zu viele Menschen, zu viele schreiende Kinder. Er versuchte, sich zu erinnern, wer gesagt hatte:

Ich wünschte, ich liebte die Menschheit; ich wünschte, ich liebte ihr einfältig Gesicht.

Vielleicht Chesterton? Es war auf jeden Fall richtig. Man musste nur genügend Leute zusammenbringen, dann sahen alle so peinlich gleichförmig aus, dass es kaum auszuhalten war. Nur ein interessantes Gesicht jetzt, dachte Sir Stafford, was für einen Unterschied das schon machen würde. Er sah verächtlich nach zwei jungen Frauen, erstklassig gekleidet, in die übliche Uniform ihres Landes, immer kürzere und kürzere Miniröcke – England, vermutete er –, und nach einer weiteren jungen Frau, noch besser gekleidet – wirklich sehr gut aussehend –, die etwas, das man wohl als Hosenanzug bezeichnete, trug. Sie war auf dem Laufsteg der Mode schon ein wenig weiter vorangekommen. Er interessierte sich nicht besonders für gut aussehende junge Frauen, die wie alle anderen gut aussehenden jungen Frauen aussahen. Er hätte lieber eine, die anders aussah. Eine Frau setzte sich neben ihn auf das Kunstledersofa. Ihr Gesicht weckte sofort seine Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil es anders war, er glaubte fast, sie zu kennen, es war ein ihm bekanntes Gesicht. Er hatte sie schon einmal gesehen. Er konnte sich nicht erinnern, wo oder wann, sie war ihm aber auf jeden Fall bekannt. Er schätzte ihr Alter auf vielleicht fünf- oder sechsundzwanzig. Eine feine, schmale Adlernase, eine dichte schwarze Haarmähne, die bis auf die Schulter fiel. Sie hielt eine Zeitschrift vor sich, schenkte ihr aber keine Aufmerksamkeit. Stattdessen sah sie ihn an, mit fast gespannter Aufmerksamkeit. Plötzlich sprach sie ihn an. Sie hatte eine tiefe Altstimme, fast wie ein Mann, und einen leichten ausländischen Akzent.