«Er bedeutet mir jetzt viel mehr als früher, da er durch gewisse – Abenteuer gegangen ist», sagte Stafford Nye. Er fügte hinzu: «Er hat seinen Zweck erfüllt.»
Der Wagen surrte durch die Nacht.
Gräfin Zerkowski sagte:
«Ja, er hat seinen Zweck erfüllt, da ich nun hier bin – und noch am Leben…»
Sir Stafford Nye erwiderte nichts. Er hatte das Gefühl, dass sie wünschte, er solle ihr Fragen stellen, sie bedrängen; dass er mehr über ihre weiteren Taten erfahren sollte und welchem Schicksal sie entgangen war. Er sollte Neugier zeigen. Es bereitete ihm Vergnügen, nichts dergleichen zu tun. Er hörte sie sanft lachen. Überrascht stellte er fest, dass es ein vergnügtes, zufriedenes Lachen war, keines, das ihn in die Enge trieb.
«Haben Sie den Abend genossen?», fragte sie.
«Eine ganz gute Party, finde ich, aber Millie Jean gibt immer gute Partys.»
«Sie kennen sie also gut?»
«Ich kannte sie schon als junges Mädchen in New York, bevor sie geheiratet hat. Eine Venus im Taschenformat.»
Sie sah ihn leicht überrascht an.
«Ist das Ihre Beschreibung für sie?»
«Eigentlich nicht meine. Eine ältere Verwandte hat sie mir so beschrieben.»
«Ja. Diese Beschreibung für eine Frau hört man heutzutage nur noch selten. Es trifft es sehr gut, finde ich. Nur –»
«Nur was?»
«Venus ist verführerisch, oder? Ist sie auch ehrgeizig?»
«Sie glauben, Millie Jean Cortman ist ehrgeizig?»
«Oh ja. Das vor allem.»
«Und Sie glauben, die Gattin des Botschafters am Hof von St. James zu sein reicht nicht aus, um diesen Ehrgeiz zu befriedigen?»
«Oh nein», sagte die Gräfin. «Das ist nur der Anfang.»
Er antwortete nicht, sondern sah zum Wagenfenster hinaus. Dann setzte er zum Sprechen an, hielt sich aber doch zurück. Er bemerkte ihren raschen Blick, aber sie blieb ebenfalls stumm. Erst als sie eine Brücke über die Themse überquerten, sagte er:
«Also fahren Sie mich nicht nach Hause und Sie fahren auch nicht zum St.-James’s-Tower. Wir fahren über die Themse. Wir haben uns schon einmal dort getroffen und sind über eine Brücke gegangen. Wo bringen Sie mich hin?»
«Haben Sie etwas dagegen?»
«Ich glaube schon.»
«Ja. Das merke ich.»
«Nun, Sie liegen damit voll im Trend. Entführung ist in Mode heutzutage, nicht wahr? Sie haben mich entführt. Warum?»
«Weil ich Sie noch einmal brauche.» Dann fügte sie hinzu. «Und auch andere brauchen Sie.»
«Wirklich.»
«Und das gefällt Ihnen nicht.»
«Es würde mir besser gefallen, wenn ich gefragt würde.»
«Wenn ich Sie gefragt hätte, wären Sie dann mitgekommen?»
«Vielleicht, vielleicht auch nicht.»
«Es tut mir leid.»
«Das bezweifle ich.»
Sie fuhren weiter stumm durch die Nacht. Es war keine Fahrt durch einsame Landstriche, sie befanden sich auf einer Hauptstraße. Ab und an erschien im Scheinwerferlicht ein Name oder ein Verkehrsschild, sodass Stafford Nye genau erkennen konnte, wo ihre Route entlangführte. Durch Surrey und dann durch die ersten Wohnbezirke von Sussex. Ab und zu nahmen sie eine kleine Abzweigung oder eine Seitenstraße, die nicht an der Hauptstraße lag, aber auch dessen war er sich nicht ganz sicher. Fast fragte er seine Begleiterin, ob sie vielleicht verfolgt wurden. Aber er hatte sich fest für seine Politik des Schweigens entschieden. Sie musste sprechen und ihm die Informationen geben. Er fand sie nach wie vor, trotz der zusätzlichen Informationen, von rätselhaftem Charakter. Sie fuhren nach einer Dinnerparty aufs Land. Sie befanden sich, dessen war er ziemlich sicher, in einem recht kostspieligen Mietwagen. Es war alles geplant, durchdacht, nichts Zweifelhaftes oder Unerwartetes war daran. Er nahm an, er würde bald herausfinden, wohin sie fuhren. Es sei denn, sie fuhren bis an die Küste. Das war immerhin möglich, dachte er. «Haslemere» las er auf einem Verkehrsschild. Nun fuhren sie an Godalming vorbei. Alles ganz offen und regulär. Die reichste Gegend der betuchten Vorstädte. Herrliche Wälder, schöne Häuser. Sie nahmen mehrere Abzweigungen und schienen dann, als der Wagen endlich langsamer fuhr, ihren Bestimmungsort zu erreichen. Sie fuhren durch ein Tor. Ein kleines weißes Torhaus stand daneben. Eine Einfahrt hinauf, gepflegte Rhododendren zu beiden Seiten. Dann fuhren sie um eine Kurve und hielten vor einem Haus. «Börsenmakler-Tudor», murmelte Sir Stafford Nye leise. Seine Begleiterin drehte fragend den Kopf.
«Nur eine kleine Bemerkung», sagte Stafford Nye. «Hören Sie einfach nicht hin. Ich nehme an, wir sind an dem von Ihnen gewählten Bestimmungsort angekommen?»
«Und der Anblick gefällt Ihnen nicht besonders.»
«Das Grundstück wirkt sehr gepflegt», sagte Sir Stafford und folgte mit den Augen dem Strahl der Scheinwerfer, als der Wagen um die Kurve fuhr. «Es kostet einiges an Geld, so einen Besitz in Gang und in Ordnung zu halten. Ich würde sagen, es ist ein sehr komfortables Haus.»
«Komfortabel, aber nicht schön. Der Mann, der hier lebt, legt wohl mehr Wert auf Komfort als auf Schönheit.»
«Das ist sicher gut so», sagte Sir Stafford, «und doch scheint er Schönheit auf seine Weise zu schätzen, eine gewisse Schönheit.»
Sie fuhren vor der hell erleuchteten Veranda vor. Sir Stafford stieg aus und streckte den Arm aus, um seiner Begleiterin herauszuhelfen. Der Chauffeur war die Stufen hinaufgestiegen und drückte auf die Klingel. Er sah die Dame fragend an, als sie die Stufen hochging.
«Sie benötigen mich heute Abend nicht mehr, gnädige Frau?»
«Nein, das ist alles für den Augenblick. Wir telefonieren morgen früh.»
«Gute Nacht. Gute Nacht, Sir.»
Drinnen ertönten Schritte, und die Tür wurde weit geöffnet. Sir Stafford hatte eine Art Butler erwartet, stattdessen stand dort ein Dragoner von einem Hausmädchen. Grauhaarig, mit zusammengepressten Lippen, ungemein zuverlässig, dachte er. Ein unschätzbares Juwel, so jemand war schwer zu finden heutzutage. Vertrauenswürdig, aber grimmig.
«Ich fürchte, wir sind etwas spät dran», sagte Renata.
«Der Herr ist in der Bibliothek. Er hat gebeten, dass Sie und der Gentleman ihn dort nach Ihrer Ankunft aufsuchen.»
Kapitel 9
Das Haus bei Godalming
Sie führte sie die breite Treppe hinauf und beide folgten ihr. Ja, dachte Stafford Nye, ein sehr komfortables Haus. Tapeten aus der Zeit Jakobs des Ersten, eine äußerst hässliche geschnitzte Eichentreppe, aber angenehm flache Stufen. Gut ausgewählte Bilder, jedoch kaum von großem künstlerischen Interesse. Das Haus eines reichen Mannes, dachte er. Ein Mann nicht mit schlechtem, aber eher konventionellem Geschmack. Guter Teppich mit dickem Flor, von angenehmer Pflaumenfarbe.
Im ersten Stock ging das Dragoner-Hausmädchen auf die erste Tür zu. Sie öffnete und trat zurück, um sie einzulassen, nannte aber keine Namen. Die Gräfin trat zuerst ein, Sir Stafford Nye folgte. Er hörte, wie sich die Tür schnell hinter ihm schloss.
Vier Leute befanden sich im Raum. Hinter einem großen Schreibtisch, ganz von Papieren und Dokumenten bedeckt – ein oder zwei ausgebreitete Landkarten und andere Papiere, die wahrscheinlich der Diskussionsgegenstand waren –, saß ein großer, dicker Mann mit einem sehr gelben Gesicht. Das Gesicht war Sir Stafford bekannt, obwohl ihm in diesem Augenblick nicht der richtige Name einfiel. Er hatte den Mann nur flüchtig, aber bei einem sehr wichtigen Anlass getroffen. Er sollte es wissen, definitiv sollte er es wissen. Aber warum fiel ihm der Name nicht ein?