«Theoretisch eine Stunde. Praktisch eine Stunde und fünfzehn Minuten.»
«Dieses Publikum», sagte Sir Stafford Nye, «die meisten, ich würde sagen, fast alle, sind wirkliche Musikliebhaber.»
«Die meisten, ja. Das ist wichtig, wissen Sie.»
«Wie meinen Sie das – wichtig?»
«Dass die Begeisterung echt sein muss. An beiden Enden der Skala», fügte sie hinzu.
«Was genau meinen Sie damit?»
«Wer Gewalt ausübt und Gewalt organisiert, muss die Gewalt lieben, muss sie wollen, ersehnen. Mit dem Zeichen der Ekstase in jeder Bewegung, beim Zerschlagen, Verletzen, Zerstören. Das Gleiche gilt für die Musik. Das Ohr muss jeden Augenblick der Schönheit und Harmonie genießen. Es darf keine Verstellung geben in diesem Spiel.»
«Kann man die Rollen zusammenlegen – kann man Ihrer Meinung nach Gewalt und die Liebe zur Musik oder Kunst kombinieren?»
«Das ist nicht immer einfach, glaube ich, jedoch möglich. Viele sind dazu fähig. Es ist jedenfalls sicherer, wenn sie diese Rollen nicht kombinieren müssen.»
«Es ist besser, alles einfach zu halten, wie unser fetter Freund Mr. Robinson sagen würde? Sollen die Musikliebhaber die Musik lieben und die Gewalttäter die Gewalt. Meinen Sie das?»
«Ich glaube schon.»
«Ich habe viel Spaß an dieser Sache. Die zwei Tage, die wir hier verbracht haben, die beiden Musikabende, an denen wir uns erfreut haben. Nicht jedes Musikstück hat mir gefallen, vielleicht ist mein Geschmack nicht modern genug. Die Kostümierung finde ich sehr interessant.»
«Sprechen Sie von der Bühneninszenierung?»
«Nein, nein, ich spreche eher vom Publikum. Sie und ich, die Konservativen, die Altmodischen. Sie, Gräfin in Ihrem Gesellschaftskleid, und ich in Frack und Fliege. Kein bequemer Aufzug, das war es noch nie. Und dann die anderen, in Samt und Seide, die Rüschenhemden der Männer, echte Spitze, ist mir mehrfach aufgefallen – der Plüsch und die Frisuren und der Luxus der Avantgarde, der Luxus des neunzehnten Jahrhunderts, oder, man könnte fast sagen wie aus den Zeiten von Elisabeth der Ersten oder wie auf Van-Dyck-Gemälden.»
«Ja, da haben Sie recht.»
«Ich komme dem, was das hier alles bedeuten soll, immer noch nicht näher. Ich habe nichts herausgefunden.»
«Seien Sie nicht ungeduldig, das hier ist eine üppige Vorstellung, subventioniert, erwünscht, vielleicht von der Jugend verlangt und veranstaltet von –»
«Von wem?»
«Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es erfahren.»
«Ich bin sehr froh, dass Sie sich so sicher sind.»
Sie betraten das Restaurant und setzten sich. Das Essen war gut, aber in keiner Weise üppig oder luxuriös. Ein- oder zweimal wurden sie von Bekannten oder Freunden angesprochen. Zwei Leute, die Sir Stafford Nye erkannten, drückten ihre Freude und Überraschung aus, ihn hier zu sehen. Renata hatten einen größeren Bekanntenkreis, da sie mehr Ausländer kannte – wohlgekleidete Frauen, ein oder zwei Männer, meist Deutsche oder Österreicher, dachte Stafford Nye, ein oder zwei Amerikaner. Sie wechselten nur ein paar belanglose Worte. Wo die Leute herkamen oder wo sie hinreisten, Kritik oder Lob am Musikprogramm. Keiner verschwendete viel Zeit, da die Essenspause ohnehin nicht sehr lang war.
Sie kehrten für die beiden letzten Musikstücke auf ihre Plätze zurück. Ein symphonisches Gedicht, ‹Auflösung in Freude›, von einem neuen jungen Komponisten, Selukonov, und dann die feierliche Pracht des Marsches aus den Meistersingern.
Sie traten wieder in die Nacht hinaus. Der Wagen, den sie täglich zur Verfügung hatten, stand bereit, um sie in das kleine, aber exklusive Hotel an der Dorfstraße zurückzubringen. Stafford Nye wünschte Renata eine gute Nacht. Sie antwortete mit gesenkter Stimme.
«Vier Uhr morgens», sagte sie. «Halten Sie sich bereit.»
Sie ging sofort in ihr Zimmer und schloss die Tür, und er ging in seines.
Das schwache Fingerkratzen an seiner Tür kam etwa drei Minuten vor vier am nächsten Morgen. Er öffnete die Tür und war bereit.
«Der Wagen wartet», sagte sie. «Kommen Sie.»
Sie aßen in einem kleinen Gasthaus in den Bergen zu Mittag. Das Wetter war gut, die Berge wunderschön. Gelegentlich fragte sich Stafford Nye, was um Himmels willen er hier eigentlich machte. Er verstand seine Reisegefährtin immer weniger. Er ertappte sich dabei, wie er ihr Profil beobachtete. Wo fuhr sie ihn hin? Was war ihr wirklicher Beweggrund? Schließlich, fast schon bei Sonnenuntergang, sagte er:
«Wohin fahren wir, darf ich das fragen?»
«Fragen dürfen Sie, ja.»
«Aber sie antworten nicht?»
«Ich könnte schon antworten. Ich könnte Ihnen etwas erzählen, aber würde das etwas bedeuten? Es scheint mir, wenn Sie dort, wo wir hinfahren, ohne erklärende Vorbereitung meinerseits (die ohnehin per se bedeutungslos wäre) ankommen, wird ihr erster Eindruck unverfälschter sein.»
Er betrachtete sie wieder nachdenklich. Sie trug einen pelzbesetzten Tweedmantel, elegante Reisekleidung, fremdländisch in Verarbeitung und Schnitt.
«Mary Ann», sagte er nachdenklich.
Es lag eine leichte Frage darin.
«Nein», sagte sie. «Im Augenblick nicht.»
«Ach, Sie sind also immer noch die Gräfin Zerkowski.»
«Im Augenblick bin ich noch die Gräfin Zerkowski.»
«Befinden Sie sich hier in Ihrem eigenen Teil der Welt?»
«Mehr oder weniger. Ich bin als Kind hier aufgewachsen. Jeden Herbst kamen wir für einen guten Teil des Jahres hierher, auf ein Schloss nicht weit von hier entfernt.»
Er lächelte und sagte nachdenklich: «Was für ein hübsches Wort. Schloss. Klingt so solide.»
«Schlösser stehen heutzutage nicht auf sehr solidem Grund, sie sind meistens baufällig.»
«Das hier ist Hitler-Land, nicht wahr? Wir sind nicht weit entfernt von Berchtesgaden, oder?»
«Es liegt dort drüben, nach Nordosten hin.»
«Und Ihre Verwandtschaft, Ihre Freunde – haben sie Hitler akzeptiert, an ihn geglaubt? Vielleicht sollte ich solche Dinge lieber nicht fragen.»
«Sie mochten ihn und alles, wofür er stand, nicht. Aber sie haben ‹Heil Hitler› gesagt. Sie haben hingenommen, was mit ihrem Land geschah. Was sonst hätten sie tun können? Was hätte irgendjemand tun können zu jener Zeit?»
«Wir fahren in Richtung Dolomiten, nicht wahr?»
«Ist es wichtig, wo wir uns befinden, auf welcher Straße wir fahren?»
«Nun, dies ist eine Sondierungsreise, nicht wahr?»
«Ja, aber die Sondierung ist nicht geografisch. Wir werden eine bestimmte Persönlichkeit aufsuchen.»
«Sie geben mir das Gefühl –», Sir Stafford Nye sah hinauf in die Landschaft aufgetürmter Berge, die bis in den Himmel reichten, «als ob wir den berühmten Alten vom Berge aufsuchen würden.»
«Meinen Sie den Meister der Assassinen, der seine Gefolgsleute unter Drogen hielt, sodass sie von ganzem Herzen für ihn in den Tod gingen? Dass sie töteten in dem Bewusstsein, selbst auch getötet zu werden, aber auch in dem Glauben, dass sie unmittelbar ins muslimische Paradies versetzt würden – schöne Frauen, Haschisch und erotische Träume – perfektes und nie endendes Glück?»
Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann: «Fesselnde Persönlichkeiten. Ich glaube, es hat sie immer gegeben, zu allen Zeiten. Menschen, die andere an sich glauben machen, sodass diese sogar bereit sind, für sie zu sterben. Nicht nur Assassinen. Die Christen sind auch gestorben.»
«Die heiligen Märtyrer? Lord Altamount?»
«Warum erwähnen Sie Lord Altamount?»
«Ich habe ihn – ganz plötzlich – so gesehen an jenem Abend. In Stein gemeißelt – vielleicht in einer Kathedrale aus dem dreizehnten Jahrhundert.»
«Einer von uns wird vielleicht sterben müssen oder sogar mehrere.»