Sie hielt das, was sie zunächst noch sagen wollte, zurück und fuhr dann fort:
«Ich denke da manchmal noch an etwas anderes. An einen Vers im Neuen Testament – Lukas, glaube ich. Christus sagte beim Letzten Abendmahl zu seinen Jüngern: ‹Ihr seid meine Gefährten und Freunde, doch einer unter Euch ist ein Teufel.› So ist aller Wahrscheinlichkeit nach einer von uns ein Teufel.»
«Halten Sie das für möglich?»
«Fast. Einer, dem wir vertrauen und den wir kennen, der aber abends schlafen geht und nicht vom Martyrium träumt, sondern von den dreißig Silberlingen, und der mit dem Gefühl erwacht, sie bereits in Händen zu halten.»
«Geldgier?»
«Ehrgeiz bezeichnet es besser. Wie erkennt man einen Teufel? Wie würde man es wissen? Ein Teufel würde auffallen in der Menge – wäre schillernd – und würde Aufmerksamkeit erregen – und die Führung in die Hand nehmen.»
Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann mit nachdenklicher Stimme:
«Ich hatte mal eine Freundin im diplomatischen Dienst, die erzählte mir, sie habe einer deutschen Frau gesagt, wie bewegt sie war von dem Passionsspiel in Oberammergau. Aber die Frau sagte verächtlich: ‹Sie verstehen das nicht. Wir Deutsche brauchen keinen Jesus Christus. Wir haben unseren Adolf Hitler. Er ist größer als jeder Jesus, den es je gegeben hat.› Sie war eine sehr nette, ganz normale Frau. Aber sie empfand das so. Eine Masse von Leuten dachte so. Hitler war ein fesselnder Redner. Er sprach und sie lauschten – und akzeptierten den Sadismus, die Gaskammern, die Folter, die Gestapo.»
Sie zuckte mit den Schultern und sagte dann mit normaler Stimme: «Trotzdem, es ist schon seltsam, dass Sie das eben gesagt haben.»
«Was meinen Sie?»
«Das über den Alten vom Berge. Den Führer der Assassinen.»
«Wollen Sie mir damit sagen, es gibt hier einen Alten vom Berge?»
«Nein, keinen Alten vom Berge. Aber vielleicht eine Alte vom Berge.»
«Eine Alte Frau vom Berge. Wer soll denn das sein?»
«Sie werden es heute Abend sehen.»
«Was machen wir denn heute Abend?»
«Wir gehen auf eine Gesellschaft», sagte Renata.
«Es scheint lange her, dass Sie einmal Mary Ann waren.»
«Sie müssen eben warten, bis wir wieder mal eine Flugreise unternehmen.»
«Ich nehme an, es ist sehr abträglich für die eigene Moral, wenn man in so gehobenen Kreisen lebt.»
«Meinen Sie das gesellschaftlich?»
«Nein, geografisch. Wenn man in einem Schloss auf einem Berg lebt und von dort oben auf die Welt hinunterblickt, das lässt einen die gewöhnlichen Menschen verachten, nicht wahr? So fühlte sich Hitler in Berchtesgaden, so fühlen sich vielleicht viele Leute, die auf Berge steigen und auf ihre Mitgeschöpfe unten im Tal hinuntersehen.»
«Sie müssen vorsichtig sein heute Abend», warnte ihn Renata. «Es wird brenzlig.»
«Gibt es irgendwelche Anweisungen?»
«Sie sind ein unzufriedener Mensch, der gegen das Establishment ist, gegen die konventionelle Welt. Sie sind ein Rebell, aber ein heimlicher. Können Sie das?»
«Ich kann es versuchen.»
«Wo fahren wir hin, Mary Ann?»
«In ein Adlernest.»
Die Straße wandte sich zum letzten Mal in eine andere Richtung. Sie schlängelte sich durch einen Wald. Stafford Nye glaubte, hin und wieder flüchtige Blicke auf Wild oder anderes Getier zu erhaschen Ab und zu waren da auch Männer in Lederjacken mit Gewehren. Wildhüter, dachte er. Und dann erblickten sie endlich ein riesiges Schloss auf einem Felsvorsprung. Ein Teil war eine Ruine, aber das meiste war wieder aufgebaut und restauriert worden. Es war kolossal und glorreich, aber es war nichts Neues daran oder in der Botschaft, die es übermittelte. Es war ein Zeuge vergangener Macht, erworben in versunkenen Zeitaltern.
«Es war ursprünglich das Großherzogtum Liechtenstolz. Das Schloss wurde von Großherzog Ludwig 1790 erbaut», sagte Renata.
«Wer lebt jetzt dort? Der heutige Großherzog?»
«Nein. Die sind alle dahingegangen und abgetan. Fortgeweht.»
«Und wer lebt jetzt dort?»
«Jemand mit gegenwärtiger Macht.»
«Geld?»
«Ja, und wie.»
«Werden wir dort Mr. Robinson antreffen, der schon vor uns eingeflogen ist, um uns zu begrüßen?»
«Ich versichere Ihnen, Mr. Robinson ist der Letzte, den wir dort antreffen würden.»
«Schade», sagte Stafford Nye. «Ich mag Mr. Robinson. Er ist schon etwas Besonderes, nicht wahr? Wer ist er wirklich – welcher Nationalität?»
«Ich glaube, niemand hat das je herausgefunden. Jeder erzählt einem etwas anderes. Einige sagen, er sei Türke, einige Armenier, einige Holländer, einige, er sei ein ganz gewöhnlicher Engländer. Einige erzählen, seine Mutter sei eine zirkassische Sklavin, eine russische Großfürstin, eine indische Begum und so weiter gewesen. Niemand weiß es. Jemand hat mir erzählt, seine Mutter sei eine Miss McLellan aus Schottland gewesen. Das erscheint mir ebenso wahrscheinlich wie alles andere.»
Sie waren unter einem großen Vorbau vorgefahren. Zwei Diener in Livree kamen die Stufen herunter. Sie begrüßten die Gäste mit pompösen Verbeugungen. Das Gepäck wurde in Empfang genommen: Sie hatten ein ganze Menge Gepäck dabei. Stafford Nye hatte sich von Anfang an gewundert, warum er so viel Gepäck mitbringen sollte, aber jetzt begann er zu verstehen, dass das von Zeit zu Zeit nötig war. Das war wohl auch heute Abend der Fall, dachte er. Ein paar fragende Bemerkungen, und seine Begleiterin bestätigte ihm das.
Sie trafen sich vor dem Abendessen, herbeibefohlen von einem großen, tönenden Gong. Er stand in der Halle und wartete darauf, dass sie die Treppe herunterkäme, um mit ihm zusammenzutreffen. Sie trug heute große, aufwendige Abendgarderobe, ein dunkelrotes Abendkleid, Rubine um den Hals und eine Rubintiara im Haar. Ein Diener trat vor und führte sie hinein. Er öffnete die Türen und verkündete:
«Gräfin Zerkowski, Sir Stafford Nye.»
«Da sind wir nun, und ich hoffe, wir spielen unsere Rolle gut», sagte Sir Stafford zu sich selbst.
Er sah zufrieden auf seine Frackhemd-Knöpfe aus Diamanten und Saphiren. Einen Augenblick später hielt er vor Überraschung den Atem an. Was immer er erwartet hatte, das war es nicht. Es war ein riesiger Raum im Rokokostil, Sessel, Sofas und Wandbehänge aus feinstem Brokat und Samt. An den Wänden hingen Gemälde, die er nicht alle gleichzeitig wahrnehmen konnte, aber er erkannte fast sofort – denn er liebte Gemälde – mit Sicherheit einen Cézanne, einen Matisse, möglicherweise einen Renoir. Bilder von unermesslichem Wert.
Auf einem breiten Sessel, eher wie ein Thron, saß eine Frau von ungeheurem Umfang. Eine Frau wie ein Wal, dachte Stafford Nye, es gab wirklich kein anderes Wort, um sie zu beschreiben. Eine riesige, voluminöse, blass aussehende Frau, die im Fett förmlich versank. Sie hatte ein Doppel-, nein, Dreifach-, fast Vierfachkinn. Sie trug ein Kleid aus steifem, orangefarbenem Satin. Auf dem Kopf saß eine kunstvolle, fast kronenartige Tiara aus kostbaren Steinen. Ihre Hände auf dem Brokat der Sessellehne waren auch enorm. Große, riesige, fette Hände, mit großen, fetten, formlosen Fingern. An jedem Finger bemerkte er einen großen Solitärring. Und in jedem Ring steckte großartiger Stein, dachte er. Ein Rubin, ein Smaragd, ein Saphir, ein Diamant, ein ihm unbekannter blassgrüner Stein, vielleicht ein Chrysopras, dann ein gelber Stein, ein gelber Diamant – wenn es kein Topas war. Sie war entsetzlich, dachte er. Sie wälzte sich förmlich in ihrem Fett. Ihr Gesicht war eine riesige weiße, faltige, sabbernde Fettmasse. Darin saßen, wie Rosinen in einem Brötchen, zwei kleine schwarze Augen. Sehr intelligente Augen, die die Welt abschätzten, ihn abschätzten; Renata aber nicht, dachte er. Renata kannte sie. Renata war hierher befohlen, verabredet. Wie immer man es nennen mochte, Renata war angewiesen worden, ihn hierherzubringen. Er fragte sich, warum. Er konnte sich nicht ganz vorstellen, warum, aber er war sich dessen sicher. Er war es, den sie ansah. Ihn schätzte sie ab, ihn suchte sie zu beurteilen. War er das, was sie wollte? War er das – ja, er würde es wohl so formulieren –, was die Kundin bestellt hatte?