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Der Ablauf war angemessen förmlich, ja, er hatte einen nahezu majestätischen Anstrich. Die großen Türen am Ende des Raumes wurden aufgerissen und gaben den Blick frei in ein hell erleuchtetes, zeremonielles Esszimmer mit Deckengemälden und drei enormen Kronleuchtern. Zwei ältere Damen kamen auf die Gräfin zu, eine von jeder Seite. Sie trugen Abendkleider, ihr graues Haar war sorgfältig auf dem Kopf arrangiert, jede trug eine Diamantbrosche. Auf Sir Stafford Nye machten sie beinahe den Eindruck von Wärterinnen. Keine Wärterinnen für ihre Sicherheit, eher erstklassige Krankenschwestern, zuständig für die Gesundheit, die Körperpflege und andere intime Einzelheiten im Leben der Gräfin Charlotte. Nach einer respektvollen Verbeugung ließ jede einen Arm unter Schulter und Ellbogen der sitzenden Frau gleiten. Mit durch lange Übung entstandener Leichtigkeit und mit ihrer eigenen Anstrengung – offensichtlich alles, was sie tun konnte – brachten sie sie auf würdevolle Art auf die Beine.

«Wir gehen jetzt hinein zum Abendessen», sagte Charlotte.

Sie ging mit ihren beiden Pflegerinnen voran. Aufrecht wirkte sie noch mehr wie eine wackelnde Geleemasse, aber sie war dennoch beeindruckend. Man konnte sie keinesfalls nur als fette alte Frau abtun. Sie stellte etwas dar und wusste, dass sie etwas darstellte und darstellen wollte. Renata und er folgten den dreien.

Als sie die Flügeltüren des Esszimmers durchschritten, erschien es ihm eher wie eine Banketthalle als ein Esszimmer. Eine Sicherheitsgarde befand sich dort. Große, blonde, gut aussehende junge Männer. Sie trugen eine Art Uniform. Charlotte betrat den Raum, und es gab einen Knall, als jeder Einzelne sein Schwert aus der Scheide zog. Sie kreuzten sie über ihren Köpfen, um einen Durchgang zu bilden. Charlotte richtete sich auf und durchschritt diese Passage, von ihren Pflegerinnen befreit und allein, bis hin zu einem breiten geschnitzten, goldbeschlagenen, mit goldenem Brokat gepolsterten Sessel am Kopfende des langen Tisches. Es war eher wie eine Hochzeitsparade, dachte Stafford Nye. Eine Marine- oder Militärhochzeit. In diesem Fall sicher Militär, rein militärisch – aber ohne Bräutigam. Es waren alles junge Leute von hervorragendem Aussehen, keiner von ihnen über dreißig, schätzte Stafford Nye. Sie sahen gut aus, strotzten vor Gesundheit. Sie lächelten nicht, sondern waren ganz ernsthaft. Sie waren – er suchte nach einem passenden Ausdruck – mit Leib und Seele dabei. Vielleicht doch keine Militärprozession, sondern eher eine religiöse. Die Bedienung erschien, eine altmodische Bedienung, noch aus der Vergangenheit des Schlosses, dachte er, aus der Vorkriegszeit. Es war wie die Kolossalinszenierung eines historischen Kostümstückes. Und darüber herrschte, auf dem Sessel oder dem Thron, wie immer man es nennen wollte, am Kopfende des Tisches, keine Königin oder Kaiserin, sondern eine alte Frau, bemerkenswert wichtig durch ihr Körpergewicht und ihre außerordentliche, intensive Hässlichkeit. Wer war sie? Was tat sie hier? Und warum?

Warum diese ganze Maskerade, warum diese Truppe, eine Sicherheitsgarde vielleicht? Andere Gäste kamen an den Tisch. Sie verbeugten sich vor der Monstrosität auf dem Präsidententhron und nahmen ihre Plätze ein. Sie trugen normale Abendkleidung und wurden nicht vorgestellt.

Stafford Nye, mit seiner langjährigen Erfahrung, Leute einzuordnen, betrachtete sie abschätzend. Viele unterschiedliche Typen. Anwälte, da war er sich sicher. Mehrere Anwälte. Möglicherweise Buchprüfer oder Finanzleute; ein oder zwei Armeeoffiziere in Zivil. Sie gehörten zum Stab des Hauses, waren aber auch im feudalen, gesellschaftlichen Sinn Leute, die gewöhnlich ans untere Tischende gesetzt wurden.

Das Essen wurde aufgetragen. Ein riesiger Schweinskopf in Aspik, kühles, erfrischendes Zitronensorbet, ein überwältigendes Kuchengebäude – ein superber Blätterteig, offenbar von unglaublicher Reichhaltigkeit und Konditorkunst.

Die ausladende Frau aß gierig, hungrig, sie genoss das Essen. Von draußen waren neue Töne zu hören, vom leistungsstarken Motor eines Supersportwagens. Er schoss wie ein weißer Blitz unter den Fenstern vorbei. Im Raum erschallte ein Schrei von der Sicherheitsgarde. «Heil! Heil! Heil Franz!»

Die jungen Leute in der Gardegruppe bewegten sich mit der Selbstverständlichkeit eines Militärmanövers, das sie blind beherrschten. Alle hatten sich erhoben. Nur die alte Frau saß unbeweglich, den Kopf leicht erhoben, auf ihrem Podest. Eine neue Erregung erfüllte jetzt den Raum.

Die anderen Gäste oder Mitglieder des Haushaltstabes, was auch immer sie waren, verschwanden. Wie Eidechsen in einer Mauerritze, dachte Stafford Nye.

Die blonden jungen Männer bildeten eine neue Formation, ihre Schwerter flogen heraus, sie salutierten vor ihrer Herrin. Sie neigte den Kopf zur Bestätigung, die Schwerter wurden in die Scheide gesteckt, und die Männer drehten sich nach ihrer Entlassung um und marschierten durch die Tür aus dem Raum hinaus. Ihr Blick folgte ihnen, richtete sich dann erst auf Renata und später auf Stafford Nye.

«Was halten Sie von ihnen?», fragte sie. «Meine Jungs, mein Jugend-Korps, meine Kinder. Ja, meine Kinder. Haben sie Worte, um dies zu beschreiben?»

«Ich denke schon», sagte Stafford Nye. «Herrlich, einfach herrlich, gnädige Frau.»

«Ah.» Sie neigte den Kopf. Sie lächelte, wodurch unzählige weitere Falten auf ihrem Gesicht entstanden. Es verlieh ihr das Aussehen eines Krokodils.

«Eine furchtbare Frau», dachte er, «eine furchtbare Frau, unmöglich, dramatisch.» War das hier die Wirklichkeit? Er mochte es nicht glauben. Es konnte nur eine weitere Festspielbühne sein, auf der ein Stück inszeniert wurde.

Die Türen wurden wieder aufgeschlagen. Die Gruppe junger strohblonder Supermänner marschierte wieder ein. Diesmal schwenkten sie keine Schwerter, sondern sangen stattdessen. Sie sangen mit ungewöhnlich schöner Stimme und Wohlklang.

Nach vielen Jahren der Popmusik verspürte Stafford Nye ein unglaubliches Wohlgefallen. Das waren geschulte Stimmen. Geschult von Meistern des Sangeskunst. Sie durften ihre Stimme nicht überanstrengen oder falsch singen. Sie mochten die neuen Helden einer künftigen Welt sein, aber was sie sangen, war keine neue Musik. Es war Musik, die er kannte. Ein Arrangement des Preisliedes; irgendwo musste ein verborgenes Orchester sein, auf einer Empore oben im Raum. Es war ein Arrangement oder eine Zusammenstellung verschiedener Wagner-Themen. Es bewegte sich vom Preislied zu den fernen Echos der Rheingoldmusik.

Das Elite-Korps bildete nochmals eine Doppelgasse, durch die jemand eintreten sollte. Diesmal war es nicht die alte Kaiserin. Die saß auf ihrem Podest und wartete auf den Ankömmling, wer immer es sein mochte.

Und da kam er endlich. Die Musik änderte sich, als er eintrat. Sie spielte das Motiv, das Stafford Nye inzwischen auswendig konnte. Jung-Siegfrieds Melodie, Siegfrieds Hornruf, der sich in all seiner Jugend und seinem Triumph erhob, in seiner Herrschaft über die neue Welt, in die Jung-Siegfried kam, um sie zu erobern.

Durch die Tür, durch die Reihen seiner offensichtlichen Gefolgsleute, marschierte einer der schönsten jungen Männer, die Stafford Nye je gesehen hatte. Goldenes Haar, blaue Augen, perfekt proportioniert, wie von einem Zauberstab heraufbeschworen, auf direktem Weg der Welt der Mythen entstiegen. Mythen, Helden, Wiederauferstehung, Wiedergeburt, alles war da. Seine Schönheit, seine Stärke, seine unglaubliche Selbstsicherheit und Arroganz. Er schritt durch die Doppelreihe seiner Bodyguards, bis er vor der abscheulichen Masse von Weiblichkeit stand, die da auf ihrem Thron hockte. Er ließ sich auf ein Knie nieder, führte ihre Hand zu den Lippen, erhob sich dann und streckte einen Arm in die Höhe zur Begrüßung. Er gab den Ruf von sich, den Stafford Nye von den anderen schon gehört hatte: «Heil!» Stafford Nyes Deutsch war nicht sehr gut, aber er glaubte, die Worte zu erkennen: «Heil der Großen Mutter!»

Dann sah sich der schöne junge Held um. Ein leichtes, eher gleichgültiges Zeichen des Erkennens, als er Renata anschaute, aber als sein Blick Stafford Nye erreichte, war da echtes Interesse spürbar. Vorsicht, dachte Stafford Nye, Vorsicht! Jetzt musste er seine Rolle richtig spielen. Die von ihm erwartete Rolle. Nur – wie zur Hölle sah diese Rolle aus? Was machte er hier? Was wollten er und die junge Frau angeblich hier? Warum waren sie gekommen?