«Aber wie kann sie –»
«Ich kann es nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Es ist enorm weit verzweigt. In irgendeiner Weise steckt sie dahinter, unterstützt ziemlich kuriose Wohltätigkeitsorganisationen, ernsthafte Philanthropen und Idealisten, gründet unzählige Stiftungen für Studenten, Künstler und Schriftsteller.»
«Und Sie sagen, das ist noch nicht –»
«Nein, sie ist noch nicht am Ziel. Eine große Umwälzung ist im Gange. Alle glauben daran. Ein neuer Himmel, eine neue Erde sollen geschaffen werden. Alle Anführer großer Bewegungen haben das seit Tausenden von Jahren versprochen. Es wurde von Religionen versprochen, die an einen Messias glauben, von denen die kommen, um zu predigen wie Buddha. Es wird versprochen von Politikern. Das diffuse Himmelreich, das leicht zu erlangen ist, wie das, an das die Assassinen glaubten und das der Alte vom Berge seinen Anhängern versprochen und ihnen auch, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, gegeben hat.»
«Ist sie auch in Drogengeschäfte verwickelt?»
«Ja. Doch natürlich ohne wirkliche Überzeugung. Es ist nur ein Mittel, den Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Es ist auch eine Art von Menschenvernichtung, von Schwachen, die ihrer Meinung nach nichts taugen, auch wenn sie einmal vielversprechend waren. Selbst würde sie niemals Drogen nehmen. Sie ist sehr stark. Aber mit Drogen kann man schwache Menschen leichter vernichten als mit irgendwas sonst.»
«Und Gewalt? Wie ist es mit Gewalt? Man kann nicht alles nur mit Propaganda erreichen.»
«Nein, natürlich nicht. Propaganda ist die erste Stufe, dahinter türmt sich ein riesiges Waffenlager auf. Waffen, die über Entwicklungsländer an andere Bestimmungsorte gelangen. Panzer und Gewehre und Atomwaffen, die nach Afrika gehen, in die Südsee und nach Südamerika. In Südamerika entsteht eine große Truppe. Streitkräfte aus jungen Männern und Frauen, die gedrillt und ausgebildet werden. Es gibt enorme Waffenlager – chemische Kampfmittel.»
«Ein Albtraum! Woher wissen Sie das alles, Renata?»
«Zum einen, weil es mir zugetragen wurde; aus Informationen, die ich erhalten habe, zum anderen, weil ich aktiv nach den Beweisen gesucht habe.»
«Aber Sie? Sie und diese Leute da?»
«Meist steckt irgendetwas völlig Idiotisches hinter allen großartigen und umfassenden Projekten.» Sie lachte plötzlich. «Sehen Sie, sie war einmal in meinen Großvater verliebt. Eine lächerliche Geschichte. Er lebte hier in dieser Gegend. Er besaß ein Schloss ein oder zwei Meilen von hier.»
«War er ein besonders genialer Mann?»
«Überhaupt nicht. Er war nur ein ausgezeichneter Sportler. Gut aussehend, maßlos und attraktiv für Frauen. Und aus diesem Grunde ist sie in gewissem Sinne meine Beschützerin. Und ich bin eine von ihren Konvertitinnen, ihren Sklavinnen! Ich arbeite für sie. Ich finde Leute für sie. Ich führe in verschiedenen Teilen der Welt ihre Befehle aus.»
«Tun Sie das?»
«Was soll das heißen?»
«Ich verstehe Sie nicht ganz.»
Er sah Renata an und dachte wieder an den Flughafen. Er arbeitete für Renata, er arbeitete mit Renata. Sie hatte ihn auf dieses Schloss gebracht. Wer hatte ihr gesagt, sie solle ihn hierherbringen? Die große, feiste Charlotte, die da mitten in ihrem Spinnennetz saß? Er hatte in bestimmten diplomatischen Kreisen den Ruf gehabt, unzuverlässig zu sein. Er konnte diesen Leuten jetzt vielleicht von Nutzen sein, auf eine niedere und ziemlich demütigende Weise. Und plötzlich dachte er quasi in einem Nebel von Fragezeichen: Auf welcher Seite steht Renata??? Ich bin mit ihr ein Risiko eingegangen am Frankfurter Flughafen. Aber das war richtig so. Es hat funktioniert. Mir ist nichts passiert. Und doch, dachte er, wer ist sie? Was ist sie? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sicher sein. Heute kann man sich auf niemanden verlassen, auf der ganzen Welt nicht. Auf überhaupt niemand. Sie wurde vielleicht angewiesen, mich einzufangen. Mich in der hohlen Hand zu halten, also könnte die ganze Geschichte in Frankfurt geschickt inszeniert worden sein. Das passte zu meinem Hang zum Risiko und würde mich ihrer sicher machen. Mich veranlassen, ihr Vertrauen zu schenken.
«Lassen sie uns noch mal traben», sagte sie. «Wir haben die Pferde zu lange im Schritt gehen lassen.»
«Ich habe Sie noch nicht gefragt, wo Sie in dieser ganzen Geschichte stehen.»
«Ich nehme Befehle entgegen.»
«Von wem?»
«Es gibt eine Opposition. Es gibt immer eine Opposition. Es gibt Menschen, denen das, was da vor sich geht, verdächtig erscheint. Auf welche Weise die Welt verändert werden soll, wie das stattfinden soll mit Kapital, Reichtum, Waffen, Idealismus, großen, machtvoll tönenden Worten. Es gibt Menschen, die sagen, das darf nicht geschehen.»
«Und Sie gehören dazu?»
«Das sage ich jetzt so.»
«Wie meinen Sie das, Renata?»
«Ich behaupte es.»
Er sagte: «Dieser junge Mann gestern Abend –»
«Franz Joseph?»
«Heißt er so?»
«Er ist jedenfalls unter diesem Namen bekannt.»
«Aber er hat sicher noch einen anderen Namen?»
«Glauben Sie?»
«Er ist doch nicht etwa Jung-Siegfried?»
«Haben Sie ihn als das betrachtet? Sie haben ihn als das erkannt, wofür er steht?»
«Ich glaube schon. Die Jugend. Die heldenhafte Jugend, die arische Jugend, es muss arische Jugend sein hierzulande. Diese Haltung gibt es immer noch. Eine Herrenrasse, die Supermänner. Sie müssen arischer Abstammung sein.»
«Oh ja. Das hat die Hitlerzeit überstanden. Es tritt nicht immer so offen zutage, und in anderen Teilen der Welt wird es nicht so sehr betont. Südamerika, wie ich schon sagte, ist eine der Bastionen. Und Peru, auch Südafrika.»
«Was macht Jung-Siegfried eigentlich? Was macht er, außer gut auszusehen und die Hand seiner Beschützerin zu küssen?»
«Oh, er ist ein sehr guter Redner. Er spricht, und seine Anhänger folgen ihm bis in den Tod.»
«Ist das wahr?»
«Er glaubt es jedenfalls.»
«Und Sie?»
«Ich denke, ich könnte es auch glauben.» Sie fügte hinzu. «Rhetorik ist sehr beängstigend, wissen Sie. Was eine Stimme bewirken kann, was Worte ausrichten können, und es müssen noch nicht einmal besonders überzeugende Worte sein. Nur die Art, wie sie vorgetragen werden. Seine Stimme tönt wie eine Glocke und die Frauen weinen und schreien und fallen in Ohnmacht, wenn er sie anspricht – sie werden das selbst erleben.» Sie fuhr fort:
«Sie haben Charlottes Sicherheitskader gestern Abend gesehen, alle waren herausgeputzt – die Leute verkleiden sich gerne heutzutage. Man begegnet ihnen überall auf der Welt in ihrer selbst gewählten Ausstaffierung, überall anders, einige mit langem Haar und Bärten und die Mädchen mit ihren weißen Nachthemd-Hängekleidchen; sie reden von Frieden und Schönheit und der wunderbaren Welt, der Welt der Jungen, die ihr Eigen sein wird, wenn sie genug von der alten Welt zerstört haben. Das ursprüngliche Land der Jugend lag einmal westlich der Irischen See, nicht wahr? Ein sehr einfacher Ort, ein ganz anderes Land der Jugend als das, was jetzt geplant ist – mit silbrigen Stränden und Meeresgesang.
Jetzt aber wollen wir Anarchie, Niederreißen und Zerstörung. Nur noch die Anarchie kann die zufriedenstellen, die hinter ihr hermarschieren. Es ist beängstigend, aber auch wundervoll – wegen der Gewalt, weil es mit Schmerzen erkauft wird und mit Leiden –»
«So betrachtet man also heute die Welt?»
«Manchmal.»
«Und was soll ich als Nächstes tun?»
«Begleiten Sie Ihre Führerin. Ich bin Ihre Führerin. Wie Vergil bei Dante, ich führe Sie in die Hölle hinunter, ich zeige Ihnen die sadistischen Filme, zum Teil noch von der alten SS kopiert, zeige Ihnen Grausamkeiten und Schmerz und die Anbetung der Gewalt. Und ich zeige Ihnen die großen Träume vom Paradies in Frieden und Schönheit. Sie werden das eine nicht vom anderen unterscheiden können. Aber Sie werden sich entscheiden müssen.»