Выбрать главу

«Sie sind sehr nett zu mir», erwiderte Lady Matilda, «ich weiß das zu schätzen. Amy!»

«Ja, Lady Matilda?»

«Hol mir einen Atlas, sei so gut. Ich habe Bayern und die Länder, die darum herum liegen, aus dem Gedächtnis verloren.»

«Also, ein Atlas. Ich glaube, es ist einer in der Bibliothek. Dort müssen ein paar alte Atlanten herumliegen, etwa aus den Zwanzigerjahren.»

«Haben wir nicht einen etwas jüngeren Datums?»

«Ein Atlas?», überlegte Amy scharf.

«Wenn nicht, dann kauf einen und bring ihn morgen früh mit. Es wird sehr schwierig sein, weil sich alle Namen geändert haben. Es sind heute andere Länder, und ich werde nicht wissen, wo ich gerade bin. Aber du musst mir dabei helfen. Bring eine starke Lupe mit, ja. Ich erinnere mich, dass ich neulich eine zum Lesen im Bett hatte, sie ist vielleicht zwischen Bett und Wand gefallen.»

Es dauerte eine Weile, bis ihre Anforderungen erfüllt wurden, aber am Ende wurden die Lupe und ein älterer Atlas zum Vergleichen herbeigeschafft. Die gute Amy, dachte Lady Matilda, war wieder einmal äußerst hilfreich.

«Ja, hier ist es. Es heißt offenbar immer noch Monbrügge oder so. Es ist entweder in Tirol oder in Bayern. Alles scheint den Ort gewechselt zu haben oder hat nun andere Namen…»

II

Lady Matilda sah sich in ihrem Schlafzimmer im Gasthaus um. Es war gut ausgestattet, schließlich war es sehr teuer. Es verband Komfort mit einem Anstrich von Kargheit, der den Gast vielleicht dazu bewegen sollte, sich mit einer Reihe von asketischen Übungen, Diäten und eventuell schmerzhaften Massagekursen anzufreunden. Die Einrichtung was interessant, dachte sie. Sie genügte allen Ansprüchen. Ein großer gerahmter Aushang in gotischer Schrift prangte an der Wand. Lady Matildas Deutsch war nicht mehr so gut wie in ihren Mädchentagen, aber die Schrift befasste sich mit der goldenen und begeisternden Idee der Wiederkehr zur Jugend. Danach hielt nicht nur die Jugend die Zukunft in ihren Händen, sondern auch die Alten wurden auf ansprechende Weise in dem Gefühl bestärkt, dass auch sie eine zweite goldene Blüte erleben könnten.

Da standen behutsame Hinweise, wie man dieser Lehre auf einem der vielen Lebenswege, die verschiedene Arten von Menschen anzogen, folgen könne (immer unter der Annahme, sie hätten auch genug Geld, um es zu bezahlen). Neben dem Bett lag eine Gideon-Bibel, wie sie Lady Matilda immer neben ihrem Bett vorgefunden hatte, wenn sie in die Vereinigten Staaten gereist war. Sie schlug sie auf einer beliebigen Seite auf und legte den Finger auf einen bestimmten Vers. Sie las ihn, nickte zufrieden mit dem Kopf und machte sich eine kurze Notiz auf einem Block, der auf dem Nachttisch lag. Sie hatte das schon oft im Laufe ihres Leben getan – es war ihre Art, sich schnell einer göttlichen Führung zu versichern.

Ich war jung und bin alt geworden, doch nie sah ich einen Gerechten verlassen.

Sie stellte weitere Erkundungen im Zimmer an. Gleich zur Hand, aber nicht allzu auffällig, lag ein Gotha-Almanach bereit, bescheiden auf einem unteren Regal des Nachttischs. Dies war ein unentbehrliches Handbuch für alle, die sich mit den oberen Kreisen der feinen Gesellschaft vertraut machen wollten. Es reichte Jahrhunderte zurück und wurde immer noch beachtet und geprüft von denen, die aristokratischer Herkunft waren oder sich dafür interessierten. Das passt gut, dachte sie, da kann ich mich ein wenig einlesen.

Neben dem Schreibtisch, an dem antiken Porzellanofen, standen Bücher mit Schriften und Grundsätzen der neuen Weltpropheten, die sich gerade oder vor nicht allzu langer Zeit als Rufer in der Wüste hervorgetan hatten. Sie standen bereit, um von jungen Anhängern mit langen Haaren, fremdartiger Kleidung und aufrechtem Herzen studiert und akzeptiert zu werden. Marcuse, Guevara, Lévi-Strauss, Fanon.

Für ein eventuelles Gespräch mit einem von der Goldenen Jugend war es wohl besser, sich auch hier etwas einzulesen.

In diesem Augenblick ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Sie öffnete sich leicht und das Gesicht der treuen Amy sah hinein. Amy, dachte Lady Matilda plötzlich, würde in zehn Jahren aussehen wie ein Schaf. Ein nettes, getreues, freundliches Schaf. Im Augenblick, dachte Lady Matilda erfreut, sah sie noch wie ein sehr nettes, rundliches Lämmchen aus, mit hübschen Locken, nachdenklichen, freundlichen Augen und der Fähigkeit, freundlich «baa, baa» zu sagen statt zu blöken.

«Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.»

«Ja. Meine Liebe, das habe ich. Sehr gut sogar. Hast du das Ding?»

Amy wusste immer, was sie meinte. Sie reichte es ihrer Arbeitgeberin.

«Ah, mein Diätplan. So.» Lady Matilda überflog ihn und sagte dann: «Unglaublich scheußlich! Was ist das für ein Wasser, das man da trinken soll?»

«Es schmeckt nicht gerade gut.»

«Nein, das glaube ich. Komm in einer halben Stunde wieder. Ich habe einen Brief für die Post.»

Sie schob ihr Frühstückstablett zur Seite und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie dachte einen Augenblick nach und schrieb dann ihren Brief. «Das sollte das Richtige sein», murmelte sie.

«Entschuldigen Sie, Lady Matilda, haben Sie gerade etwas gesagt?»

«Ich habe an die alte Freundin geschrieben, von der ich dir neulich erzählt habe.»

«Die Freundin, die Sie seit fünfzig oder sechzig Jahre nicht mehr gesehen haben?»

Lady Matilda nickte.

«Ich hoffe sehr –», sagte Amy entschuldigend. «Ich meine – ich – es ist schon so lange her. Ich hoffe sehr, dass sie sich an Sie und alles Weitere noch erinnern kann.»

«Aber bestimmt», sagte Lady Matilda. «Die Menschen, die man nie vergisst, sind die, die man im Alter von etwa zehn bis zwanzig Jahren gekannt hat. Die bleiben einem immer im Gedächtnis. Man erinnert sich an ihre Hüte und wie sie lachten, an ihre Fehler und ihre guten Eigenschaften, an alles über sie. Leute, die ich vor vielleicht zwanzig Jahren getroffen habe, an die kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Nicht, wenn sie erwähnt werden, nicht einmal, wenn ich sie vor mir sehe. Oh ja, sie wird sich an mich erinnern. Und an Lausanne. Bring bitte den Brief zur Post. Ich muss noch meine Hausaufgaben machen.» Sie nahm den Gotha und legte sich wieder ins Bett, wo sie eingehend die Dinge studierte, die ihr von Nutzen sein würden. Familienbeziehungen und andere Verwandtschaftsbeziehungen, die vorteilhaft waren. Wer wen geheiratet hatte, wer wo gewohnt hatte, welche Unglücksfälle anderen zugestoßen waren. Nicht dass die Frau, die sie im Sinn hatte, selbst im Gotha zu finden gewesen wäre. Aber sie lebte hier in diesem Teil der Welt, hatte sich mit Absicht hier niedergelassen, um auf einem Schloss zu wohnen, das ursprünglich alten Adelsgeschlechtern gehört hatte. Sie hatte den örtlichen Respekt und die Verehrung vor allem von Leuten gehobener, erstklassiger Herkunft aufgesogen. Die Frau selbst konnte keinerlei Anspruch auf eine erstklassige Herkunft erheben, das war Lady Matilda wohlbekannt. Sie musste sich mit Geld begnügen. Ströme von Geld, unglaubliche Mengen. Lady Matilda Cleckheaton bezweifelte nicht, dass sie selbst, als Tochter eines achten Herzogs, zu irgendeiner Gelegenheit geladen werden würde. Vielleicht zu Kaffee und wunderbarer Cremetorte.

III

Lady Matilda betrat einen der großen Empfangsräume im Schloss. Es lag etwa 20 Kilometer entfernt. Sie hatte sich mit Sorgfalt angekleidet, allerdings etwas zum Missfallen von Amy. Die gute Amy gab selten einen Rat, aber sie war so bestrebt, dass ihre Herrin überall gut ankam, dass sie sich diesmal entschlossen hatte, einen leichten Einwand zu erheben. «Glauben Sie nicht, dass Ihr rotes Kleid etwas zu abgetragen ist, wenn Sie verstehen, was ich meine? Ich meine, direkt unter der Achsel, und, nun, da sind ein oder zwei sehr glänzende Stellen –»

«Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Es ist ein sehr schäbiges Kleid, aber immer noch ein Patou-Modell. Es ist alt, aber es war seinerzeit sehr teuer. Ich möchte nicht reich oder extravagant erscheinen. Ich bin das verarmte Mitglied einer aristokratischen Familie. Jeder unter 50, das ist mir bewusst, würde auf mich herabsehen. Aber meine Gastgeberin hat seit längerer Zeit in einem Teil der Welt gelebt, wo die Neureichen gewillt sind, auf ihre Einladung zu warten, während die Gastgeberin selber bereit ist, auf eine schäbige alte Frau untadeliger Herkunft zu warten. Familientraditionen gibt man nicht so leicht auf. Man hält daran fest, auch wenn man in eine andere Gegend zieht. Übrigens, in meinem Koffer findest du eine Federboa.»